Die Arbeitsgruppe „Berliner Klassik”, an der eine Vielzahl von Mitgliedern der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klassen der BBAW beteiligt waren, setzte sich zum Ziel, die ungewöhnliche Kulturblüte Berlins zwischen 1786 und 1815 (also zwischen dem Tod Friedrichs II. und dem Wiener Kongreß) als Epochen-Integral zu rekonstruieren. Da dies bislang nicht versucht worden war, hatte das Vorhaben den Charakter einer geschichtlichen Neubestimmung. Die Voraussetzung ihres Gelingens war eine sorgfältig geplante Interdisziplinarität.

 

Die zugrundegelegte Arbeitshypothese besagt, dass die deutsche Kulturblüte um 1800 nicht einen, sondern zwei gleichwertige, wenn auch der Erscheinungsform nach sehr unterschiedliche Verdichtungspunkte besitzt, nämlich Weimar und Berlin. Aber nur einer von ihnen, Weimar, ist zu einem nationalen Mythos geworden, während der andere, Berlin, lediglich als interessanter und vielgestaltiger geistiger Umschlagsplatz ohne klare Konturen und ohne organisierende Mitte gilt. Dementsprechend zerfällt die einschlägige Berlin-Forschung, an der es grundsätzlich nicht mangelt, in viele Zentren und Epizentren ohne Gesamtperspektive.

 

Da es markante ideen- und kunstgeschichtliche Gemeinsamkeiten zwischen Weimar und Berlin gibt, mussten die Kriterien der Berliner Anders- und Eigenwertigkeit zunächst aus dem Vergleich heraus entwickelt werden. Dabei traten in der Tat zwei völlig konträre Kulturtypologien zutage. Während die "Weimarer Klassik" sich nur am äußersten Rande der Zeitgeschichte bewegt, bleibt die "Berliner Klassik", getreu ihrer friderizianischen Vorgeschichte, dramatisch in sie verwickelt. Während in Weimar ein kleiner, relativ homogener und immobiler Personenkreis in einem fast gesellschaftslosen Raum agiert, herrscht in Berlin das Stimmen- und Interessensgewirr einer multiplen Kulturgesellschaft. Während in Weimar ausschließlich das Medium Literatur und die integrative Gestaltungskraft einer Ausnahmepersönlichkeit (Goethe) bestimmend ist, sind in Berlin mehr oder minder alle Künste, Disziplinen, Stände und Geistesrichtungen der Zeit prominent vertreten und die traditionellen Grenzziehungen, nicht zuletzt die sozialen, weitgehend dispensiert. Weimar stellt sich somit als soziales Kunstgebilde (ein zusammengerufener Musenhof) und als Wunschbild einer machtgeschützten deutschen Provinzialkultur dar, während Berlin aus der gewachsenen Tradition einer höfisch-bürgerlich-deutsch-französisch-jüdischen Aufklärung schöpfen kann und seine auffällig pragmatischen Emanzipationsentwürfe in Kunst, Wissenschaft und Politik im kulturkämpferischen Klima einer vitalen Stadtgesellschaft hervorbringt.

 

Zu den wichtigsten dieser Entwürfe gehören: das Berliner Antike-Projekt von 1790 (Langhans, Schadow, Carstens, K. Ph. Moritz, W. von Humboldt); die modernen Verfassungskonzepte des Allg. Preußischen Landrechts und der Stein-Hardenberg-Scharnhorstschen Reformen; die offenen Salons der jüdischen Frauen; die Reform des humanistischen Gymnasiums und die Gründung der Berliner Universität (W. von Humboldt); die Grundlegung der idealistischen Philosophie (Schleiermacher, Fichte, Schelling, Hegel); die Herausbildung einer städtischen Musikkultur (Zelter u.a.); der Bürgerkult um Königin Luise; die Radikalpsychologisierung der Literatur durch Moritz, Tieck und Kleist.

 

Den spätaufklärerisch-klassischen Kräften, die der Stadt (vor allem mit Hilfe Schinkels) endgültig ihren "Spree-Athen"-Charakter verschaffen, stehen durchwegs starke restaurative und eskapistische Oppositionen gegenüber. Unter ihnen ragen die Woellnerschen Religions- und Zensurerlässe, der Adelswiderstand unter v. d. Marwitz und die nationalpatriotischen Hysterien der romantischen und idealistischen Fraktion (Arnim, Kleist, A. von Müller, Fichte) hervor. Der starken Berliner Romantik kommt allerdings eine Sonderrolle zu. Einserseits ist sie entschieden klassizismusfeindlich und tendentiell stadtflüchtig, andererseits bleibt sie nicht ohne Einfluß auf das Klassik-Paradigma und bringt berlintypische Doppelorientierungen hervor (z. B. bei Schleiermacher, Gilly, Fichte, Kleist, Schinkel). Der Erforschung dieses Phänomens, hinter dem als Vermittlungsinstanz die idealistische Philosophie zu stehen scheint, kommt besondere Bedeutung zu.

 

Berlin ist um 1800 eine genuine Parallele und Alternative zum Geist von Weimar/Jena, in vielem verwandt, in vielem konträr. Im Hinblick auf seine institutionen- und normenbildende Kraft (Universität, Salon, Kunst- und Wissenschaftsautonomie), seine praktizierte Toleranz, seine juden- und frauenemanzipatorischen Erfolge, seine Auseinandersetzung mit den Revolutionsideen, seine systemphilosophischen Triumphe und seine experimentelle Kunstpraxis ist es zweifellos moderner.

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