Die Unverständlichkeit juristischer Texte ist von juristischen Laien oft genug beklagt, oft genug karikiert worden. Diese Kritik ist häufig gut nachvollziehbar. Umgekehrt kann der Jurist kann mit Recht auf die Notwendigkeit eindeutiger, unmißverständlicher, revisionsfester Formulierungen verweisen. Ist dieser Gegensatz ein notwendiger? Wann genau kommt es zu einem Widerstreit? Wovon hängen eigentlich Verständlichkeit und Unmißverständlichkeit ab? Welche Rolle spielt hier die Syntax, welche das Lexikon? Wie interagieren tatsächlich sprachlich ausgedrückte Information ("Wortlaut") und kontextuelles Wissen (etwa jene Form der oft stillschweigenden Hintergrundannahmen, die man unter dem Wort "Rechtskultur" zusammenfaßt) im weitesten Sinne? Dies sind die Fragen, zu deren Klärung die Arbeitsgruppe beitragen sollte. Sie hat ihre Arbeit in drei miteinander zusammenhängende Teilprojekte gegliedert, die in Angriff zu nehmen angesichts des wenig befriedigenden Forschungsstandes realistisch erschienen.

 

Für die Arbeitsgruppe waren insbesondere zwei Schnittfelder von Sprache und Recht von Bedeutung::

 

  • Kriterien der Auslegung von Texten. Die Regeln einer Sprache legen stets nur in Grenzen fest, wie ein bestimmter in dieser Sprache geschriebener Text zu verstehen ist: es gibt stets gewisse "Spielräume der Ausdeutung", die durch andere Faktoren - den gesamten Redezusammenhang, das Weltwissen der Beteiligten, die Tradition der Rechtssprechung - zu füllen sind.
  • Sprachliche Anforderungen an die juristische Formulierung. Ein juristischer Text soll verständlich, zugleich aber auch unmißverständlich sein, zwei Eigenschaften, die leicht im Widerstreit stehen. Ob sie erfüllt sind, hängt vor allem von der sprachlichen Form des Textes ab. Intuitiv ist dies oft sehr gut zu beurteilen; es ist aber sehr schwer, solche Intuitionen systematisch mit bestimmten sprachlichen Eigenschaften in einen Zusammenhang zu bringen.

 

I. Teilprojekt: Die Entstehung von Gesetzestexten

Ein leitender Gedanke, der hinter Rechtssystemen wie dem deutschen steht, ist, daß rechtliche Regelungen durch ihre schriftliche Fixierung in Gesetzestexten das gesprochene Recht sozusagen vorwegnehmen. Damit ein Urteil ergehen (aufgeschrieben und wirksam werden) kann, muß ein Gesetz durch die rechtsfindenden Institutionen angewendet werden. Die Forderung nach praktischer Anwendbarkeit von Gesetzestexten durch den Juristen läßt sich also aus der Funktion von Gesetzen ableiten.
Im Fall von Texten setzt Anwendbarkeit eine verständliche Formulierung voraus. Man sollte demnach davon ausgehen, daß bei der Entwicklung von Gesetzestexten grundsätzlich auch solche sprachlichen Kriterien zum Zuge kommen, die der Verständlichkeit dienen.Ob und in welcher Weise dies in der Vergangenheit geschehen ist, ist Forschungsgegenstand des Teilprojektes I. Es sollte untersucht werden, nach welchen sprachlichen Prinzipien Gesetzestexte in ihrer Entstehungszeit umgearbeitet wurden und wie sich solche editorischen Änderungen auf die Verständlichkeit ausgewirkt haben. Es sollte experimentell festgestellt werden, ob die Neufassungen tatsächlich auf die Adressaten verständlicher wirken. Ziel war es, mit empirischen Methoden zu allgemeinen Prinzipien zu gelangen, die beschreiben, welche sprachlichen Phänomene mehr und welche weniger im Dienste der Textverständlichkeit stehen.

 

II. Teilprojekt: Sprachliche Spielräume der Gesetzesauslegung

Recht wird gesprochen, indem ein oder mehrere Gesetze auf einen Einzelfall angewendet werden. Hierfür muß der Gesetzestext zuerst ausgelegt, also in einem gewissen Sinne gedeutet bzw. verstanden und interpretiert werden. Nun ist es eines der charakteristischen Merkmale der menschlichen Sprache, sei es in ihrer gesprochenen wie in ihrer geschriebenen Form, daß sie oft weite Spielräume für die Deutung zuläßt, die vom Rezipienten durch "Kontextwissen" gefüllt werden müssen. Die Deutungsspielräume eines Textes haben zwei eng zusammengehörige, aber grundsätzlich zu trennende Ursachen - Mehrdeutigkeit und Vagheit. Beide lassen sich linguistisch an der Wahl bestimmter Ausdrucksmittel festmachen, etwa an inhärenten lexikalischen Mehrdeutigkeiten, an unbestimmten Skopusverhältnissen, an der Anaphorik und dergleichen mehr. In dem vorliegenden Teilprojekt ging es darum, wie sich das dem Gesetzestext innewohnende Spannungsverhältnis zwischen Vagheit und Präzision in der Formulierung niederschlägt und wie die verbleibenden Deutungsspielräume von den verschiedenen Adressatengruppen wahrgenommen und aufgelöst werden.

 

III. Teilprojekt: Rechtliche Anforderungen an die Sprache

In der Rechtspraxis gibt es eine Reihe von Feldern, in denen Sprache und einzelne sprachliche Erscheinungen unmittelbar thematisiert werden. Zwei Beispiele, die wissenschaftlich interessante Probleme aufwerfen, sind das "Transparenzgebot" und die Verwechslung von Produktbezeichnungen. Sie sollten in diesem dritten Teilprojekt thematisiert werden.

 

Teilprojekt IIIa: Transparenzgebot

Es gibt seit zwei Jahrzehnten eine lebhafte Diskussion über die Fassung von juristischen Texten, die sich unmittelbar an Verbraucher wenden. Im Mittelpunkt stehen dabei Allgemeine Versicherungsbedingungen; die Überlegungen gelten aber entsprechend für eine Reihe vergleichbarer Rechtstexte. Für solche Texte gilt in besonderem Maße, daß sie für alle Betroffenen verständlich sein müssen. Dieses "Transparenzgebot" ist in den letzten Jahren durch mehrere Entscheidungen des Bundesgerichtshofs, aber auch europarechtlich erheblich entwickelt worden. Die Formulierung des Transparenzgebots, demzufolge schriftliche Klauseln in Verträgen auch für den Kunden "klar und verständlich" sein müssen, läßt offen, was eigentlich ´"klar und verständlich" besagen soll. Dies zu klären war Aufgabe des Teilprojektes IIIa.

 

Teilprojekt IIIb. Verwechslung von Produktbezeichnungen

In allen bisher beschriebenen Teilprojekten ging es um Fragen der optimalen Formulierung rechtlicher Inhalte. Manche Rechtstexte befassen sich auch gegenständlich mit Sprachereignissen. Bei dem Gegenstand, auf den das Recht hier angewendet wird, handelt es sich zwar um ein Sprachgebilde, doch bedient sich der Gesetzgeber bei der Formulierung der einschlägigen Paragraphen kaum sprachwissenschaftlicher Termini. Der Schutz von Bezeichnungen wird im Gesetz z.B. vor allem an Begriffen wie "Originalität", "Gestaltungshöhe", "Kennzeichnungskraft", "Eingeführtheit" und "Verwechslungsgefahr" festgemacht. Es sind im Gesetz keinerlei Anhaltspunkte genannt, nach denen diese Begrifflichkeiten auf Sprachgebilde angewendet werden sollen. Es liegt somit in der Hand der Jurisprudenz, objektive Kriterien zu finden, nach denen die jeweiligen strittigen Fälle beurteilt werden können.

Im Mittelpunkt der ersten Arbeitsphase stand das dritte dieser Teilprojekte, und hier insbesondere das "Transparenzgebot".

Kontakt
Dr. Ute Tintemann
Referentin
Referat Arbeitsgruppen
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