Mit der von Jürgen Trabant konzipierten internationalen Tagung zum Ursprung der Sprache hat die Akademie den Reigen der mit ihrem 300jährigen Jubiläum in Zusammenhang stehenden Veranstaltungen fortgesetzt. Die Beschäftigung mit dem Sprachursprung hat in der Akademie eine lange Tradition. Angestoßen wurde sie von Leibniz mit seiner 1710 als erste Akademieveröffentlichung erschienenen "Brevis designatio meditationum de originibus gentium ductis potissimum ex indicio linguarum" (Kurze Schilderung der Erwägungen zur Herkunft der Völker, die sich am ehesten aus dem, was die Sprachen zu erkennen geben, ableiten läßt). Entscheidend waren für die Diskussion in der Akademie die Überlegungen des Akademiepräsidenten Maupertuis, der im Sinne der empiristischen Philosophie Condillacs den Sprachursprung als ein zentrales wissenschaftliches Problem auf die Tagesordnung setzte. Er löste damit eine innerakademische Auseinandersetzung aus, in der die großen philosophischen Fraktionen des 18. Jahrhunderts aufeinander prallten und die schließlich zu Herders berühmter "Abhandlung über den Ursprung der Sprache" (1772) führte, die ja als Antwort auf eine von der Akademie gestellte Preisfrage entstanden war. Auch Jacob Grimms Schrift "Über den Ursprung der Sprache" von 1851 war die Antwort auf eine Preisfrage der Akademie. Hugo Schuchardt befaßte sich 1920 in einem Vortrag vor der Akademie noch einmal mit dieser Frage.
 

Die unterschiedlichen Vorstellungen über den Sprachursprung sind Ausdruck von tief liegenden, konfligierenden Überzeugungen, wie etwa, ob die Sprache gottgegeben oder menschengemacht ist, ob sie ein Instrument für die Kommunikation ist oder ein kognitives Problem löst; ob es zu Beginn der Menschheitsgeschichte eine gemeinsame oder verschiedene Sprachen gab. Die unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen haben weitreichende Folgerungen für die Wissenschaften und das Selbstverständnis der Menschen.
 

Die Frage ist heute wieder auf der Tagesordnung der sprachthematisierenden Disziplinen, weil Evolutionsbiologie, Genetik, Kognitionspsychologie und Paläoanthropologie eine ganze Reihe neuer Einsichten in die Vorgeschichte des Menschen gebracht haben, denen sich auch die Linguistik nicht mehr verschließt. Aber auch heute geht es wie im 18. Jahrhundert beim Problem des Sprachursprungs nicht nur um im engen Sinne disziplinäre Fragen, sondern um die anthropologische Frage der Stellung des Menschen im Kosmos: Was an der Sprache ist angeboren, was ist erworben? Was an der Sprache ist Natur, was ist Kultur? Was ist überhaupt Sprache, wozu dient sie eigentlich? Ist Sprache Stimme, ist sie Denken? Wann hat das begonnen? Was ist das erste Wort, die erste Sprache? Können wir Frühformen der Sprache, eine Ur-Sprache rekonstruieren?
 

Die Tagung verfolgte die Absicht, die heute vor allem im angloamerikanischen Raum geführte Debatte an die Berliner Akademie zurückzuholen. Nicht nur ist eine Akademie der geradezu ideale Ort für ein solches interdisziplinäres Gespräch, die Berliner Akademie ist es aufgrund ihrer Tradition in ganz besonderem Maße. Gegenseitige Offenheit ist Voraussetzung für den Austausch zwischen den Lebenswissenschaften und der Sprachwissenschaft, den eine ernsthafte und erfolgversprechende Behandlung des Sprachursprungsthemas heute verlangt.
 

Das Aufeinanderzugehen der Disziplinen und gegenseitige Neugier bestimmten die Dynamik des Kongresses. Von der Seite der Biologie entwarfen Philip Lieberman, Terrence Deacon, Eörs Szathmáry und Manfred Bierwisch durchaus divergierende Szenarien des Ursprungs. In welchem Ausmaß sich die Linguistik heute auf die Fragestellung einläßt, war vermutlich die große Überraschung der Tagung: Ray Jackendoff, Wolfgang Klein, Bernard Comrie, Jean Aitchison, Jim Hurford, Mike Beaken, Merrit Ruhlen und Volker Heeschen entwickelten, von ganz verschiedenen Sprachauffassungen ausgehend, unterschiedliche, aber auch komplementäre Vorstellungen zur ersten Sprache und zur vorgeschichtlichen Evolution der Sprache. Wie weit interdisziplinäre Kooperation bei der Behandlung des Ursprungsthemas gehen kann, d.h. wie weit sich biologische und linguistische Einsichten entgegenkommen und sich verschränken können, zeigte der gemeinsame Vortrag der Biologin Eva Jablonka und des Linguisten Daniel Dor, die die Verzahnung natürlicher und kultureller Evolution der Sprache vorführten. Die wissenschaftshistorischen Ausführungen von Joachim Gessinger, Wolfert von Rahden und Henri Meschonnic führten schließlich die weltanschaulichen Implikationen und politischen Motivationen der Sprachursprungs-Debatte in der Vergangenheit vor Augen.
 

Natürlich ist das Geheimnis des Ursprungs der Sprache nicht gelüftet worden. Die neuen Fragestellungen, die Wege zukünftiger Forschung und die Notwendigkeit der interdisziplinären Kooperation zwischen Lebenswissenschaften und Sprachwissenschaften sind aber nachdrücklich belegt worden. Es war richtig, die Diskussion um den Ursprung der Sprache im Jubiläumsjahr an die Berliner Akademie zurückzuholen, die sich damit auch im dreihundertsten Jahr ihres Bestehens als eine Institution erwiesen hat, die in den Fluchtlinien ihrer großen Traditionen lebendiger Forschung exemplarisch neue Impulse zu geben vermag.
 

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