Die von Matthias Kleiner geleitete Studiengruppe Virtualität in Technik und Organisation - Chancen und Risiken für die Arbeitswelt hatte die Aufgabe, zu prüfen, ob sich in diesem Feld ein Thema für die Einrichtung einer interdisziplinären Arbeitsgruppe der Akademie konkretisieren läßt.

 

Der Gruppe gehörten folgende Akademiemitglieder an: Otto Fiedler, Martin Grötschel, Siegfried Großmann, Bernd Hillemeier, Matthias Kleiner, Walter Michaeli, Stefan Müller, Christoph Polze, Peter Starke und Wolfgang Streeck. Zu den externen Mitgliedern gehörten Edmund Haberstroh (RWTH Aachen), Hartmut Neuendorff (Uni Dortmund), Bernd Scholz-Reiter (Uni Bremen) und José Luis Encarnação (Fraunhofer IGD). An den Expertisen haben überdies Uwe Dirksen, Rüdiger Klatt, Marcus Schlüter und Sigita Urdze mitgewirkt.

 

Ausgangspunkt der Überlegungen und Zielsetzung

In der Computer- und Informationstechnologie findet seit geraumer Zeit eine rasante Entwicklung statt. Sie ermöglicht es, bei der Bewältigung von Informations-, Kommunikations- und Produktionsaufgaben ganz neue Wege zu beschreiten. Auf elektronischer Basis entstehen "virtuelle", weltweit verteilte, dezentrale, kooperative Organisationsstrukturen, welche die zentralistischen Organisationsformen zum Teil bereits abgelöst haben. Informatik und Produktionstechnik ebenso wie die Sozial- und Rechtswissenschaften befassen sich begleitet von einem starken Interesse der Öffentlichkeit mit der "Virtualität" von Produktions- und Arbeitsweisen, Unternehmen und Organisationen oder Freizeitaktivitäten Jugendlicher. Der gesellschaftlichen Bedeutung und der Breite der genannten Phänomene entspricht eine deutliche Unklarheit der Begriffsverwendung. Die Vielfalt der Beobachtungen und Analysen ist schwer zu überschauen und noch schwerer miteinander in eine für zukünftige Forschung fruchtbare Beziehung zu bringen.

 

Die Studiengruppe hat ihr Interesse aus diesem Grunde auf einen Ausschnitt beschränkt, der die Aussicht bot, genügend Führung für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zu bieten: die Arbeitswelt. Im Blickpunkt stehen dann die effektivere Gestaltung der Arbeit durch Einsatz der neuen Computer- und Informationstechnologien, deren technische und soziale Voraussetzungen, Möglichkeiten und Konsequenzen unter den Bedingungen einer globalen Wirtschaft, mit ihrem Druck auf die Unternehmen, Absatzmärkte zu erweitern, Produktionsstätten an kostengünstige Standorte zu verlagern und technische Neuerungen immer schneller in neue Produkte umzusetzen, mithin die Produktentwicklung zu beschleunigen. Die Produktions- und Marktstrukturänderungen verlangen ausgereifte Informations- und Kommunikationstechnologien, aber auch qualifizierte Mitarbeiter; auch die Anforderungen an deren Wissen, Fertigkeiten und Motivation steigen. Sowohl aus technischer und naturwissenschaftlicher wie auch aus sozialwissenschaftlicher Sicht sind viele Fragen im Zusammenhang von Virtualität und Arbeitswelt unbeantwortet. Die Studiengruppe hat deshalb versucht, klare Fragestellungen in der Absicht zu entwickeln, eine umwelt- und sozialverträgliche Einführung und Weiterentwicklung von virtuellen Methoden in der Arbeitswelt zu unterstützen.

 

Durchgeführte Arbeiten und Ergebnisse

Im Rahmen der vorhandenen Fachkompetenz hat sich die Studiengruppe zu Beginn ihrer Tätigkeit darauf verständigt, die zukünftigen Arbeiten auf die Gegenstandsbereiche 1. Einsatz von Methoden der Virtualität bei der Produktentstehung (technischer Prozeß), 2. Virtuelle Betriebsorganisation entlang der Prozeßkette von der Produktion bis zur Vermarktung der Produkte und 3. Virtuelle Unternehmensorganisation im Sinne global vernetzter, raumzeitlich entgrenzter Herstellungs- und Distributionsprozesse zu konzentrieren. Die drei Arbeitsfelder - technischer Prozeß, Prozeßkette und Unternehmen - sollen sowohl voneinander getrennt als auch in ihren Wechselbeziehungen zueinander betrachtet werden.

 

Als gemeinsame Grundlage für die fachübergreifende Diskussion wurde im ersten Arbeitsschritt eine Exploration des Kenntnisstandes in den verschiedenen Fachdisziplinen zu dem Thema Virtualität vorgenommen und ausführliche Literaturrecherchen in den Gebieten Produktionstechnik, Sozialwissenschaften und Informationstechnik durchgeführt. Für die Durchführung der notwendigen Arbeiten wurden die drei Arbeitsgruppen Informationstechnik (Scholz-Reiter, Polze, Stark), Produktionstechnik (Michaeli, Haberstroh, Kleiner) und Sozialwissenschaften (Neuendorff, Streeck) gebildet. Die Koordinatoren der Arbeitsgruppen haben die Ergebnisse der Recherchen im Oktober 2000 gemeinsam diskutiert. Die Ergebnisse sollen im folgenden kurz vorgestellt werden.

 

Der Begriff Virtualität

 

Bevor auf die Einsatzbereiche von Virtualität eingegangen wird, sollen der Begriff selbst und sein Umfeld kurz betrachtet werden. Spur und Krause (1997) nehmen eine Definition des Begriffs 'Virtualität' auf der Basis seiner Ableitung aus dem Französischen vor und übersetzen ihn mit 'Wirkungskraft, Wirkungsvermögen' oder auch 'Wirkungsfähigkeit'. Diesbezüglich wird unter 'virtuell' "eine in der Möglichkeit vorhandene Eigenschaft, die unter gewissen Umständen in die Wirklichkeit zu treten vermag" , verstanden. Der Vorgang, eine Virtualität, also eine Wirkungsfähigkeit bzw. ein Wirkungsvermögen zu erzeugen, wird 'Virtualisierung' genannt. Übertragen auf ein 'virtuelles Objekt' kann definiert werden, daß dieses zwar nur in der Möglichkeit vorhanden ist und nur scheinbar existiert, aber über Eigenschaften verfügt, die der Wirklichkeit entsprechen, und es trotz der Scheinbarkeit zur Wirkung befähigt ist.

 

Informationstechnik

 

In der Informationstechnik hielt der Begriff Virtualität als erstes Einzug in Hardware- und Softwarelösungen wie 'virtueller Speicher' und 'virtuelle Maschinen'. Aktuell läßt sich Virtual Reality (VR) als ein großes Arbeitsgebiet innerhalb der Informationstechnik nennen, wobei nach Bullinger und Bauer mit VR meist die rechnergestützte Generierung eines möglichst perfekten sensorischen Abbildes unserer realen Umwelt assoziiert wird. Seit kurzem gibt es eine neue Entwicklung auf dem Gebiet von VR, welche 'Erweiterte Realität' oder 'Augmented Reality' genannt wird. Hierbei überlagern sich reale Objekte mit rechnergenerierten virtuellen Objekten. Das Koppeln dieser beiden Welten ermöglicht das situationsgerechte Agieren in realen Arbeitsumgebungen und unterstützt die Informationsdarbietung und Wissensvermittlung.

 

Ein weiteres Gebiet, welches in Zusammenhang mit Virtualität steht, ist das der Multiagentensysteme (MAS). Sie spielen eine wichtige Rolle in den Arbeitsgebieten der Künstlichen Intelligenz, der Verteilten Systeme, der Robotik und des Künstlichen Lebens. Im Mittelpunkt der MAS-Forschung steht die Selbständigkeit von Individuen, sogenannter 'Virtueller Agenten', und die Interaktionen, die diese verbinden. Ein Ziel der Forschung ist es, verteilte Instanzen zu erzeugen, die in der Lage sind, komplexe Aufgaben durch Kooperation und Interaktion zu lösen. Ein weiteres Ziel ist die theoretische und experimentelle Analyse von 'Selbstorganisationsmechanismen', die ins Spiel kommen, wenn mehrere autonome Wesen (Entitäten) interagieren. Mögliche Anwendungen Virtueller Agenten sind beispielsweise individuenbasierte Simulationen oder die Bestimmung von Planungsverfahren für den optimalen Betrieb von flexiblen Fertigungsanlagen unter Beachtung sich ständig verändernder Bedingungen.

 

Virtualität in der Produktionstechnik

 

In der Produktionstechnik (Kunststoff- und Umformtechnik) ist die Einführung der virtuellen Produktentwicklung mit dem virtuellen Produkt als Basis und das damit eng verbundene Concurrent-Engineering im universitären und industriellen Umfeld bereits weit fortgeschritten. Unter Verwendung von 3D-CAD Systemen und unter anderem durch Einsatz 'virtueller Tonmodellierung' werden am Rechner Produkte erstellt. Anschließend werden mit Digital Mock-Up (DMU) und mit funktionalen virtuellen Prototypen ohne ein physisches Modell Untersuchungen durchgeführt, mit denen beispielsweise der Zusammenbau des Produktes bzw. dessen Funktionalität überprüft wird. Parallel dazu beginnt bereits die virtuelle Planung der Fertigung. Während im Automobilbau die virtuelle Produktentwicklung schon fast durchgehend Realität ist, gilt dies für die Kunststoffverarbeitung als relativ junger Disziplin noch nicht. Dort sind Arbeitsprozeßmodelle und entsprechende Unterstützungen durch Rechnersysteme häufig nur partiell vorhanden. Erfahrungswissen und Kreativität prägen diese Arbeitsprozesse in einem hohen Maße, so daß sich diese Arbeitsschritte meist nur sehr ungenau vorhersagen lassen. Aktuelle und zukünftige Forschungsschwerpunkte liegen hier unter anderem in der Unterstützung dezentraler Organisationsformen, erfahrungsbasierter Arbeitsprozeßunterstützung und reaktiven Administrationssystemen. Betrachtet man die technische Seite, so begründen sich Probleme momentan noch in den heterogenen Softwaresystemen und den damit hervorgerufenen Datenaustauschproblemen, aber auch im Fehlen von Softwaremodulen für eine durchgehende Softwarekette.

 

Daneben sind unter dem Aspekt der virtuellen verteilten Teams aber auch verstärkt Sicherheitsrisiken und der Schutz von Firmen-Know-How zu fokussierende Problembereiche. Dagegen bietet die Virtualisierung mit dem damit verbundenen Re-Design und dem Einsatz innovativer Werkzeuge und Konzepte in Arbeitsprozessen ein hohes Potential für eine Effizienzsteigerung in den unterschiedlichsten Arbeitsabläufen. Im Bereich der Automobilindustrie konnte bisher so eine Halbierung der Entwicklungszeit für ein neues Automobil erzielt werden. Umfragen in der Automobilindustrie haben jedoch gezeigt, daß der Stand der Anwendung und der daraus gezogene Nutzen noch sehr unterschiedlich sind. Hinsichtlich des Geschäftsnutzens liegen nach Storath und Schellhammer die Unterschiede vornehmlich in der Organisation, wie zum Beispiel in der Parallelorganisation für die virtuelle und reale Entwicklung, in Kommunikationsdefiziten zwischen Versuchs- und Berechnungsingenieur oder auch in der fehlenden Bereitschaft, auf der Basis von virtuellen Methoden Entscheidungen zu treffen.

 

Virtuelle Unternehmen

 

Virtuelle Unternehmen verstehen sich als Kooperation von Unternehmen oder Selbständigen zur Kombination von internen und externen Ressourcen mit dem Ziel, in dynamischen Umfeldern konkurrenzfähig zu sein. Damit ist bei den Unternehmen auch tendenziell eine Konzentration auf ein Stammpersonal verbunden, wobei dazu die Wissens- und Führungskräfte gezählt werden. Der damit verbundene Wandel im Hinblick auf die Anforderungen an die Arbeitnehmer ist erheblich, wobei umstritten ist, ob dieser Wandel zugunsten oder zuungunsten der Arbeitnehmer erfolgt. In der aktuellen Literatur lassen sich zu diesem Bereich nur wenige Einschätzungen finden. Eine systematische Untersuchung der Probleme, die die Zusammenarbeit in Virtuellen Unternehmen aus der Sicht der Unternehmen in sich birgt, scheint derzeit nicht vorzuliegen.

 

Gleiches gilt auch für Chancen, die eine derartige Unternehmenszusammenarbeit in sich birgt sowie für Probleme, die die Zusammenarbeit mit Virtuellen Unternehmen aus Kundensicht in sich bergen könnte, beispielsweise wenn die Aufteilung der Führungsaufgaben unter den Partnern zur Folge hat, daß bei Beanstandungen der Ansprechpartner nicht eindeutig erkennbar ist. Eine zentrale Frage ist auch, wie gut und dauerhaft Virtuelle Unternehmen funktionieren. Insgesamt scheinen die Auswirkungen der Virtualität von Unternehmen auf Arbeitnehmer der am besten untersuchte Teilbereich im Themenkomplex von 'Virtualität' und 'Virtuelle Unternehmen' zu sein, wenngleich auch hier bei einer Durchsicht der aktuellen Literatur einige Fragen offen bleiben. So lassen sich beispielsweise keine aktuellen empirischen Untersuchungen zu den Gefahren von Anonymität und Isolierung durch die Tätigkeit in Virtuellen Unternehmen finden.

 

Resümee

Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, daß die Virtualisierung in der Arbeitswelt in vielen Bereichen sehr schnell voranschreitet. Nach Auffassung der Studiengruppe sind inter- bzw. multidisziplinäre prozeßbegleitende Forschungen zu den Bedingungen und Folgen dieses Prozesses dringend erforderlich. Ebenso dringlich ist eine breite Reflexion der Gestaltungsspielräume und Ziele. Die Akademie wäre der geeignete Ort für derartige Unternehmungen.

 

Ausblick

Die Studiengruppe wird ihre Arbeit mit der Erstellung eines Abschlußberichtes beenden. Er wird eine Zusammenfassung der von den einzelnen Arbeitsgruppen erstellten Expertisen sowie der Diskussionsergebnisse und damit verbundenen Schlußfolgerungen beinhalten.

Kontakt
Dr. Ute Tintemann
Leiterin Referat IAG
Referat Interdisziplinäre Arbeitsgruppen
Tel.: +49 (0)30 20370 633
tintemann@bbaw.d
Jägerstraße 22/23
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