Akademievorlesungen Sommersemester 2005: DIE MATHEMATISIERUNG DER NATUR - Peter Deuflhard: Das Lächeln der Mathematiker. Mathematik im Dienst der Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie

12. Mai 2005

Einstein-Saal im Akademiegebäude Eingang Jägerstraße 22/23

Die Mathematisierung der Natur

Akademievorlesungen Sommersemester 2005

Einführung:

Die Mathematisierung der Natur erfaßt ganz offensichtlich immer größere Bereiche der Alltagswelt, von der Digitalisierung vertrauter Medien wie Rundfunk und Fernsehen über den automatischen Piloten im Auto und den intelligenten Roboter im Haushalt bis zur computergesteuerten Mikrochirurgie. Von neuen Mathematisierungen mit immer überraschenderen Fähigkeiten hören wir fast täglich, und ein Ende ist nicht in Sicht, es will eher scheinen, daß wir die schöne neue Welt gerade erst betreten haben. Die BBAW widmet sich deshalb in diesem Sommer der Frage, was es mit dem so außerordentlich erfolgreichen Prozeß der Mathematisierung eigentlich auf sich hat: wie er begrifflich zu fassen ist, welche Möglichkeiten absehbar und welche Grenzen sichtbar sind, und wie er sich schließlich auf die zukünftige Entwicklung von Wissenschaft und Gesellschaft auswirken wird.

            Im Vortrag von Peter Deuflhard wird Mathematisierung im Dienst der Gesichtschirurgie vorgestellt, als die Entwicklung von Verfahren zur Berechnung und Steuerung des Verlaufs von Operationen. Es wird deutlich werden, wie weit der Weg von einem grundsätzlichen theoretischen Verständnis des chirurgisch notwendigen und möglichen Handelns zu einem berechenbaren, also prinzipiell beliebig wiederholbaren Operationsverlauf ist, und zu welchen Ergebnissen diese Art der Mathematisierung führt.

              Jens Reich beleuchtet dann die Frage, welche Phänomene der Alltagswelt überhaupt und mit welchen Methoden mathematisierbar sein können. Insbesondere die molekularen Lebensprozesse, mit denen sich Biologie und Medizin beschäftigen, stellen uns durch ihre überwältigende Komplexität vor grundsätzliche Fragen, deren Beantwortung, trotz unleugbarer Teilerfolge, zumindest noch sehr ungewiß ist.

            Jochen Brüning geht schließlich der Frage nach, wie das jeder Mathematisierung zugrunde liegende theoretische Verständnis gewonnen werden kann, wie also die Phänomene der realen Welt abstrakt modelliert werden können mit dem Ziel ihrer Berechenbarkeit. Ausgehend von der singulären Leistung Isaac Newtons erläutert der Vortrag die daraus entstehende Opposition von Freiheit in der Wahl des Modells und Notwendigkeit in der Ausführung jeder Rechnung, die auch auf die gemeinsamen Problemfelder von Geistes- und Naturwissenschaften führt.


Zusammenfassung des Vortrags:

 

"Imago animi vultus -- Der Spiegel der Seele ist das Gesicht" schreibt Cicero in "De Oratore". Bei manchen Menschen ist dieser Spiegel entweder von Geburt an oder als Folge eines Unfalls grob verzerrt. Kieferfehlstellungen oder auffällige Asymmetrien können ein Gesicht derart verändern, dass Mitmenschen bewusst oder unbewusst zurückweichen und den Entstellten sozial isolieren; das unglückselige Goethe-Wort "Hüte dich vor den Gezeichneten" spricht hierzu Bände! Die Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie versucht durch zum Teil drastische Eingriffe dieses Leid zu mildern: Kieferknochen werden zersägt, bis zu einigen Zentimetern verkürzt, verlängert oder verschoben.

 

In diesem Zweig der Chirurgie spielt Mathematik heute eine Schlüsselrolle: Operationen werden im "virtuellen Labor", also im Computer, detailgenau geplant und anschließend in der Realität, also im Operationssaal, präzise ausgeführt. Noch ehe der Chirurg den ersten Schnitt gesetzt hat, kann das Aussehen des Patienten nach erfolgreicher Operation berechnet werden; die mathematischen Zauberworte heißen hier "schnelle numerische Lösung partieller Differentialgleichungen" und "dreidimensionale Visualisierung". In der Tat können heute die Fragen des Patienten "Wie werde ich nach erfolgreicher Operation aussehen? Wie wird mein Lächeln aussehen?" mit hoher Sicherheit schon vor der Operation beantwortet werden. Arzt und Patient gemeinsam können vorab verschiedene Varianten im Rechner durchspielen und sich für eine entscheiden - hier tut sich eine ganz neue Welt auf! Das ZIB ist seit einigen Jahren auf diesem Gebiet international führend tätig, natürlich in enger Kooperation mit Chirurgen. Der Vortrag richtet sich an interessierte Laien; es werden zahlreiche Beispiele "virtueller Patienten" im Vergleich mit realen Patienten gezeigt.

Veranstaltungszeitraum:

18.30 Uhr

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