Akademievorlesungen Sommersemester 2006: DIE HERAUSFORDERUNG DES RECHTSSTAATS DURCH DEN TERRORISMUS / Friedhelm Neidhardt: "Handlungsfeld Terrorismus. Täter, Opfer, Publikum

22. Juni 2006

Einstein-Saal im Akademiegebäude am Gendarmenmarkt, Eingang Jägerstraße 22/23

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Akademievorlesungen im Sommersemester 2006

Die Herausforderung des Rechtsstaats durch den Terrorismus

Eine Veranstaltungsreihe der Interdisziplinäre Initiative Justizgewährung, Staatsräson und Geheimdienste

Die 2004 eingerichtete Projektgruppe »Justizgewährung, Staatsräson und Geheimdienste« befaßte sich mit den Folgen des 11. September 2001, dem mittlerweile weltweit agierenden Terrorismus und seinen Auswirkungen auf die innere und äußere Sicherheit im Rechtsstaat. In den Expertengesprächen wurden zunächst Motivation und Zielsetzung des gegenwärtigen Terrorismus analysiert; sodann die Strukturen und Gefährdungspotentiale terroristischer Gruppierungen in Deutschland und die daraus resultierenden sicherheitspolitischen Konsequenzen. Bei einer Abwägung von Prävention und Repression stellt sich einerseits die Frage der Balance von Sicherheitsgewährleistung und Gefährdung individueller Freiheit in der Demokratie. Andererseits wird der Konflikt von Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit im Spannungsfeld zwischen Normalität und Ausnahmezustand deutlich, der sich in einer weltweiten Entwicklung demokratischer Staaten hin zum Präventionsstaat manifestiert. Erfolgversprechende Präventionsstrategien stellen das etablierte System der Gewaltenteilung der europäischen Länder und Nordamerikas vor rechtsstaatliche Probleme. So besteht die Gefahr, den Justizgewährungsanspruch des einzelnen dem Prinzip der Staatsräson zu opfern, wenn etwa die grenzüberschreitende Kooperation der Geheimdienste die justitielle Kontrolle der Exekutive einschränkt.


 

Friedhelm Neidhardt, Professor emeritus für Soziologie, Freie Universität Berlin; Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

 

Einführung und Moderation: Christian Tomuschat

Zusammenfassung: Wie immer sich ein Terrorismus selber begründen mag: religiös, sozialrevolutionär, nationalistisch oder sonstwie,  und wie sehr sich dabei seine Programme im Einzelnen auch unterscheiden: Im Kampfe selber entstehen sekundäre Motive, welche die originären Zielsetzungen und verlautbarten Begründungen überlagern und oft sogar verdrängen. Der Terrorismus erzeugt ein Handlungsfeld, in dem Unterstützer und Sympathisanten entstehen und verschwinden, abhängig von dem Tun der Täter ebenso wie von dem Kampf gegen sie. Im komplexen Zusammenspiel zahlreicher Akteure entsteht die Tendenz zu einer Eigendynamik terroristischer Konflikte. Der Kampf selber erzeugt sich dann die Gründe sowohl seiner Fortdauer als auch seines Endes.

Dabei ist schlecht prognostizierbar, welche Verläufe die Prozesse nehmen. Das „Handlungsfeld Terrorismus“ ist überraschungsreich, und alle Strategien sind stark fehleranfällig. Das liegt grundsätzlich daran, dass der terroristische Konflikt ein uninstitutionalisierter Konflikt ist, für den es keine eindeutigen Spielregeln gibt. Mehrere Bedingungen kommen hinzu, um die Kontingenzen rund um den Terrorismus zu steigern: Als eine Strategie militärisch schwacher Akteure operiert Terrorismus im Untergrund, und er zwingt auch seine Verfolger in die Klandestinität. Die wechselseitige Wahrnehmung der gegeneinander stehenden Protagonisten ist deshalb von Fehleinschätzungen bedroht.

Die geringe Fassbarkeit der Akteure nimmt auf der Seite der Terroristen zu, wenn der Organisationszusammenhang der Kleingruppen, die mit Anschlägen operieren, nur netzförmig locker ausgeprägt und deshalb relativ unscheinbar ist. Dies trifft heute zum Beispiel auf den international agierenden Dschihad-Terrorismus islamistischer Gruppierungen zu. Die Handlungsfähigkeit aber auch von Kleinstgruppen ist gleichwohl sowohl durch die modernen Kommunikationstechniken als auch durch die Praxis von Selbstmordattentaten gesichert, welche die aufwändigste Vorkehrung für Anschläge, nämlich die Sicherung von Fluchtwegen, erübrigt.

Die Internationalisierung des Terrorismus erzwingt auch eine Internationalisierung der Terrorismusbekämpfung. Sie bringt damit eine Heterogenität nationaler Interessen ins Spiel, die es schwer macht, zwischen den sogen. Sicherheitskräften und den politischen Instanzen, die hinter ihnen stehen, ein Minimum an Koordination zu sichern. Diesen Sicherheitskräften werden im Übrigen erhebliche Irritationen durch die Transparenzinteressen der Medien bereitet, für die terroristische Aktionen einen außerordentlichen Nachrichtenwert besitzen. Ohne Medien würde Terrorismus überhaupt nicht funktionieren. Sie sorgen mit der Art ihrer Berichterstattung auch dafür, dass die auf Terrorismus bezogene Risikowahrnehmung des Publikums extrem volatile Stimmungslagen schafft, was zumindest in Demokratien auch die politischen Akteure beeinflussen muss. Dies um so mehr, als die gleichermaßen verbürgten Sicherheits- und Freiheitsansprüche der Bevölkerung für wichtige politische Entscheidungen ein Wertedilemma aufbringt, dass nicht durch „saubere Lösungen“ stillgestellt werden kann. Das Ringen um Verhältnismäßigkeit bleibt im Kampf gegen den Terrorismus ein Dauerthema. Dies auch deshalb, weil der Terrorismus angesichts der Komplexitäten, die er auslöst, für alle Beteiligten ein Spekulationsprojekt bleibt.

Veranstaltungszeitraum:

18.30 Uhr

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