Leibniztag (Festsitzung) Die Einladung gilt als Einlaßkarte.

25. Juni 2005

Konzerthaus am Gendarmenmarkt

ES GILT DAS GESPROCHENE WORT

 

 

Leibniztag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

am 25. Juni 2005

 

 

Dieter Simon

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Wünschen und erwarten

 

Der Leibniztag ist in der Tradition dieser Akademie jener Tag, an dem der Präsident Rechenschaft gibt über seine, der Mitarbeiter und der Mitglieder Tätigkeit im verflossenen Geschäftsjahr. Das ist erwünscht und erwartet. Gleichwohl wird heute diese Tradition suspendiert. Suspendiert bis zum Dezember dieses Jahres, wenn der neue Präsident die Geschäfte in die Hand nehmen wird. Dann, aber auch erst dann, ist unwiderruflich der Zeitpunkt gekommen für gebührende Abrechnung, Auskunft und Rechtfertigung.

Für heute soll die auf diese Weise erzeugte Leerstelle mit Einstein gefüllt werden. Warum mit ihm? Er wird doch schon landauf, landab gefeiert - und außerdem: Schiller, der nationale Heldenpoet, wäre ergiebiger für den patriotischen Sinn, Andersen mit seinen Märchen ist wichtiger für die Kinder und unsere Phantasie, Jean-Paul Sartre könnte die täglich erneut benötigte Unterrichtsstunde in der Philosophie der Freiheit liefern, und Montesquieu haben wir zwar keine Kenntnisse über das Weltall, dafür aber lebendige Einsichten in die richtige Verfaßtheit unserer staatsbürgerlichen Institutionen zu verdanken.

Die Antwort ist einfach. Einstein war nicht nur eines, er war das Haupt- und Großmitglied dieser Akademie. Was in den vielen Würdigungen, die sich mit Einstein in Berlin befassen, mit großer Regelmäßigkeit zu kurz kommt, ist der Umstand, daß die Preußische Akademie der Wissenschaften, also diese Akademie unter ihrem inzwischen historisch gewordenen Namen, neunzehn Jahre lang die eigentliche Heimstatt des großen Mannes war; daß sie ihm ein für damalige Professoren fürstliches Gehalt ermöglichte, eine Professur ohne Verpflichtungen vermittelte und auch seinem virtuellen Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik den Weg ebnete.

Wer solcher Patenschaft teilhaftig wurde, hat ohne Zweifel auch eine Option auf Gedenktafeln und Erinnerungsmünzen, auf Gedächtnisschriften, Memorialsymposien, Festreden und Unvergeßlichkeitsstelen erworben. Einstein hätte sich dies alles ganz gewiß verbeten und es vermutlich sogar verboten. Zu groß waren sein Schmerz und seine Wut über die Deutsche Tat und zu unversöhnlich seine gerechte Verachtung gegenüber den Tätern und jenen, die sie geduldet hatten.

Aber wer gestorben ist, hat die Möglichkeit sich zu wehren eingebüßt. Einstein ist tot. Deshalb konnten wir ihn ohne Nachfrage und ohne große Rücksichtnahme feiern. So, wie wir unsere anderen größeren und kleineren Toten ungefragt feiern - ein wenig unkonventioneller vielleicht und damit ein bißchen in seinem Sinne, ein Quentchen farbiger als gewöhnlich und damit mehr in seinem Sinne, um eine Prise lustiger als es die Regel ist, und damit jedenfalls in seinem Sinne.

Unserer Regierung hat das nicht gefallen. Sie hat durch, wie es so trefflich heißt, die Arbeitsebene, die Nase rümpfen lassen. Nicht weil sie etwas gegen Einstein oder eine Einsteinhuldigung einzuwenden gehabt hätte. Im Gegenteil. Sie hat doch selbst ein ganzes Einsteinjahr ausgerufen. Aber sie hatte es noch nicht feierlich und eigenhändig eröffnet. Wir sind losgelaufen, bevor der amtliche Startschuß ertönte - und ohne nach der Richtung zu fragen. Das war ungezogen. Die Regierung hätte gewünscht und erwartet, daß sich die Akademie in der Angelegenheit Einstein an die allfällige Ordnung hält.

Wir haben im Januar nicht nur gegen die Ordnung verstoßen. Darüber wird noch zu sprechen sein. Wir haben auch einen anderen wichtigen Aspekt unbedacht mit Stillschweigen übergangen. Er soll zunächst zur Sprache kommen.

Wir haben uns nicht bei dem Toten entschuldigt.

Unsere verblichenen Mitglieder verbannten ihn zwar nicht aus der Akademie, aber wäre er ihnen nicht zuvorgekommen, hätten sie am Ende wohl kaum gezögert. Schließlich hatte das Ministerium die Akademie bereits aufgefordert zu prüfen, ob Einstein sich, wie es hieß, "an der Deutschenhetze in Amerika und Frankreich" beteiligt habe. Gegebenenfalls solle dann ein Disziplinarverfahren beantragt werden.

Eine mißliche Angelegenheit, ein Disziplinarverfahren gegen einen Kollegen. Wer da mitmacht, muß seine Karten aufdecken und sagen, wo er steht. Das ist nicht unbedingt die Lieblingshaltung des deutschen Professors. Das Plenum war demgemäß richtig erleichtert, daß Einstein ausgetreten war. Man konnte "ergebenst" nach oben berichten, daß "weitere Schritte" sich erübrigen würden, da der Verdächtige aus der Akademie und sogar aus Deutschland entschwunden sei.

Aber so billig läßt ein zackiges Ministerium seine treuherzigen Professoren nicht entkommen, zumal wenn es, wie unausbleiblich, über das willige Ohr und die gefällige Hand eines beflissenen Mitläufers verfügt.

Das war der Geheimrat Ernst Heymann, Sekretar der Akademie, Jurist und zu meinem persönlichen Bedauern auch ein tüchtiger Rechtshistoriker. Der teilte mit, "daß er von autoritativer Seite wisse, daß man im Ministerium eine öffentliche Erklärung der Akademie in der Angelegenheit Einstein wünsche und erwarte".

Ein, wie es scheint, harmloses Sätzchen. Ein Sätzchen, wie es in ähnlicher Form viele von uns in ihrem akademischen Leben des öfteren gehört haben. Und doch ein gespenstischer Text, in dem sich für den Aufmerksamen das ganze Elend eines subalternen, zur Macht gekrochenen Verstandes offenbart.

Gerichtet war die Mitteilung an Eduard Sthamer, den Bibliothekar und Archivar, der auch das Büro der Akademie besorgte. Telefonisch war der Satz zugegangen und zwar "in aller Frühe" wie Sthamer zur Steigerung der Bedeutsamkeit vermerkt. Man hört die Stimme des Geheimrates, wie sie, von Wichtigkeit geschwängert und ohne den kleinen Herrn Sthamer einzuweihen, die mit niederdrückender Autorität ausgestattete Quelle zitiert.

Wir kennen diese Quelle: Es war Kohlrausch, der Rektor der Berliner Universität, der am Vorabend "sehr spät" Heymann angerufen hatte. Kohlrausch war seinerseits von Gerloff, dem Rektor der Universität Frankfurt am Main, angerufen worden. Und Gerloff hatte berichtet, Reichskommissar Rust habe sich erzürnt über Einsteins unerhörtes Verhalten geäußert.

Bernhard Rust, der Gauleiter von Südhannover-Braunschweig, der am 2. Februar 1933 das preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung kommissarisch übernahm, hatte seine Empörung an Gerloff gemeldet, Gerloff an Kohlrausch, Kohlrausch an Heymann und Heymann an Stahmer, der am Ende der vorauseilenden Gehorsamskette stand, und jetzt unterrichtet wird, daß der Geheimrat noch in der Nacht eine Erklärung verfaßt hat, die er, Sthamer, jetzt durchs Telefon zu vernehmen, ins Reine zu schreiben und der Presse sowie dem Ministerium, das solches gewünscht und erwartet hatte, zu überreichen habe.

Und so kam jene bekannte Erklärung in die Zeitungen, in der die, über eine nicht stattgefundene "Deutschenhetze" entrüstete Akademie "bei aller gebotenen strengen Zurückhaltung in politischen Fragen den nationalen Gedanken" betont und, ihre Untertänigkeit demonstrierend, feststellt, daß sie "aus diesem Grund keinen Anlaß" habe, "den Austritt Einsteins zu bedauern".

Selbstverständlich hatte dieser, in der beliebten Mischung aus Feigheit und Anbiederung inszenierte Alleingang des Geheimrats Heymann Folgen. Schwerste, akademische Folgen.

Ein Mitglied wies darauf hin, daß das fehlende Bedauern nicht ohne vorhergehenden Beschluß des Plenums hätte publiziert werden dürfen. Zwei andere Mitglieder beantragten sogar eine Sondersitzung, bei der sie eine trotzige Publikation des Bedauerns, daß sie Einstein verloren hatten, beantragen wollten.

Max von Laue, der treue Freund Einsteins, stellte den verabredeten Antrag - und blieb zu seinem Entsetzen mit ihm allein. Die Vollversammlung warf sich in vielen komplizierten Windungen auf den Bauch und ließ sich überzeugen, daß der arme Geheimrat angesichts des grollenden Staatskommissars zu schnellstem Handeln gezwungen gewesen war. Sie faßte, auch wenn ihr die Umstände nicht restlos behagten, folgenden Beschluß:

"Die Akademie billigt nachträglich den Schritt des Herrn Heymann und spricht ihm den Dank für sein sachgemäßes Handeln aus".

Die Physiker der Akademie fanden "den Schritt" zwar auch "sachgemäß", aber sie wollten es wenigstens nicht gewesen sein. Deshalb gaben sie zu Protokoll, "daß kein Mitglied der physikalisch-mathematischen Klasse Gelegenheit gehabt hat, an der Erklärung der Akademie vom 1. April 1933 zum Fall Einstein mitzuwirken".

Damit war der "Fall Einstein" für die Akademie vorläufig erledigt und die Ordnung wieder hergestellt. Die Ahnung des (nach Einstein zu 60% edlen) Schmerzensmannes der deutschen Wissenschaft, Max Planck, daß der Vorgang eines Tages "nicht zu den Ruhmesblättern der Akademie gezählt werden" würde, bekam die Chance, sich als richtig zu erweisen.

1945 war es so weit. Einstein hatte überlebt. Man hätte sich entschuldigen können. Man entschuldigte sich nicht. Das Gewissen der nicht mehr Preußischen, sondern jetzt Deutschen Akademie der Wissenschaften war eigentümlich rein. Als eine Münchener Zeitung, im Mai 1946, in einem Bericht über vertriebene Wissenschaftler, unter anderem unrichtig anmerkte, Einstein sei aus der Akademie ausgestoßen worden, beeilte sich Johannes Stroux, der neue Präsident, nachdrücklich um die Richtigstellung, daß Einstein, "ohne jedes Zutun unserer Akademie, ganz aus persönlichem Antrieb, wenn auch unter dem Zwang der Verhältnisse, sein Amt bei der Akademie niedergelegt" habe.

Für die Verhältnisse kann man sich nicht entschuldigen - um so mehr, wenn sie ohne jedes eigene Zutun entstanden sind. Daß Zutun vielleicht die Verhältnisse verhindert hätte, ist demgegenüber eine so beschwerliche Vorstellung, daß ihr der, im frischen Besitze der Macht langsam zum Sozialisten erstarkende Präsident nicht nähertreten mochte. Er beschränkte sich auf ein Telegramm vom Juli 1946, das, obendrein und kaum bekannt, ausdrücklich "auf Veranlassung der russischen Behörde und der Zentralverwaltung verfaßt" wurde und Einstein "unter innerster Abkehr von allem geschehenen Unrecht" um die Wiederaufnahme seiner Mitgliedschaft bat. Es waren also recht eigentlich die Russen, die nicht nur die sofortige Räumung und Wiederherstellung des Einsteinhäuschens in Caputh veranlaßten, sondern auch Einstein um Rückkehr bitten ließen.

Einstein zeigte sich von dieser verordneten "innersten Abkehr" nicht berührt und lehnte mit einem einzigen, vielzitierten Satz ab: "Nach all dem Furchtbaren, das geschehen ist, sehe ich mich außerstande das Anerbieten der Deutschen Akademie anzunehmen".

Die Deutsche Akademie der Wissenschaften nahm es schweigend zur Kenntnis. Sie meldete sich 1949 wieder: mit einem Telegramm zu Einsteins 70. Geburtstag. Auch zum 75. Wiegenfest, im Jahre 1954, wurde artig gratuliert. Als Einstein ein Jahr später starb, verfaßte der Physiker und Akademiker Achilles Papapetrou einen, auf die physikalischen Großtaten des Verstorbenen beschränkten, dreieinhalbseitigen Nachruf. Er wurde niemals gedruckt.

Die Beziehungen der Akademie zum lebenden Einstein, dem genialen Physiker und weltberühmten Kollegen waren beendet.

Jetzt konnte man sich nicht mehr entschuldigen.

Wer sich entschuldigt, hofft auf einen Freispruch. Den zu gewähren ist jedoch nur der Verletzte in der Lage und berechtigt. Zwar wäre ein Freispruch vermutlich nicht gewährt worden. Aber die Frage wurde nicht geprüft.

Es begann die Beziehung zum toten Einstein, dem Einstein der Würdigungskonferenzen, Gedenkveranstaltungen und Erinnerungsschriften. Zum 100. Geburtstag im Jahre 1979 markierte die Akademie, inzwischen in ihrer Erscheinungsform als Akademie der Wissenschaften der DDR, durch Nachdrucke und Dokumentationen - bescheiden, aber unübersehbar - des großen Physikers endgültige Aufnahme unter die Objekte der Memorialkultur, mit ihrer Anerkennung eines immerwährenden Anspruchs auf periodische, akademische Messen.

Das ist die kalenderdeterminierte Erinnerungslinie, die zu unserem Einsteinsalon im Januar und von dort zum heutigen Leibniztag führt.

Was im Januar übergangen wurde, ist auch heute nicht zu bewältigen.

Entschuldigen können wir uns nicht mehr. Aber wir könnten bereuen. Reue kommt natürlich immer zu spät, aber, so der tröstliche Volksmund, "Reue ist der Besserung Morgenrot".

Haben wir uns gebessert? Würde Einstein heute festgehalten, geborgen, verteidigt - öffentlich und privat gegen jedermann, der ihn haltlos und ohne Prüfung angriffe und seine Würde mit Füßen träte? Einstein zweifellos. Aber der kommt nicht wieder. Wie wäre es bei einem neuen, einem zweiten Einstein? Sehr wahrscheinlich kaum anders. Vestigia terrent: d.h., man hat so seine Erinnerungen. Aber wie stünde es um einen Kleinstein, einen ganz kleinen, einen winzigen, einen vielleicht nicht einmal sympathischen Kollegen? Mag sein: ebenso.

Aber Zweifel sind erlaubt.

Wer Gelegenheit hatte, die demütigen Kniefälle des Geistes vor der Macht zu beobachten, den atemlosen Stolz der berufenen Berater, das bleiche Erschrecken des Professors beim Murren der Unbedarftheit, die schwitzende Beflissenheit der akademischen Antragsteller - der muß notwendig nachdenklich werden, was wohl geschehen würde, wenn uns von autoritativer Seite übermittelt würde, das Ministerium wünsche und erwarte in dieser oder jener Angelegenheit eine Handlung oder eine Haltung.

Womit wir wieder bei unserem, Einstein geschuldeten, Januarverstoß gegen die vorgesehene Ordnung angelangt wären. Und an dieser Stelle besteht fürwahr noch immenser Bedarf und zugleich vielerlei Möglichkeit zu reuiger Besserung in Erinnerung an und unter Berufung auf unser ehemaliges Mitglied.

In seiner Physik achtete Einstein unerbittlich auf Ordnung. Gott würfelt nicht, meinte er, was wohl nur noch wenige glauben, denn es sieht immer mehr so aus, als täte Gott nichts anderes. Aber außerhalb seiner Wissenschaft war Einstein jeder Ordnung, vor allem aber der verordneten Ordnung abhold. Wie kaum ein anderer eignet er sich deshalb zur Verehrung als antiautoritäre Ikone.

Die Normalform der äußeren Ordnung, der die Wissenschaft ausgesetzt ist, nennen wir Bürokratie. Das ist bekannt und der Klagen darüber sind Legion.

Werden die Wissenschaftler der Jungen Akademie nach ihren Sorgen befragt, dann kommen naturgemäß die Unterfinanzierung und die Sorge um einen Arbeitsplatz zur Sprache. Aber an der Spitze aller Beschwerden steht die Klage über die Verregelung ihrer wissenschaftlichen Welt; über die Gebirge von Vorschriften und Formularen; über die Trägheit und Borniertheit von Administrationen, die sich, wie es den Anschein hat, die Be- und Verhinderung von Wissenschaft vornehmen statt ihre Förderung zu betreiben.

Wer 10 Jahre an dem Auftrag gearbeitet hat, einer Akademie ein Gehäuse und eine Arbeitsstruktur zu schaffen, wäre sicher dazu berufen, das Unsägliche, dessen er in dieser Zeit in Stadt, Land und Republik ansichtig wurde, für die Nachkommenden zu beschreiben. Aber es hätte wenig Sinn, Zorn und Verachtung an jenen timiden Figuren auszulassen, die zertifikationshörig und das Tageslicht scheuend, achselzuckend in den Büros in ihren Akten wühlen. Und noch sinnloser wäre es, deren Vorgesetzte zu kritisieren, die verbindlich und seufzend ihre Absagen, Weigerungen und Verzögerungen mit der Rechtslage und ihrer bedauerlichen eigenen Bindung an die Vorschriften motivieren. Wobei dann irgendwann als Oberkasper der Rechtsstaat oder der Bundesrechnungshof zitiert werden. Sinnlos auch, die peinlichen und beschämenden Beispiele zu sammeln und anzuklagen, denn Besserung ist von all dem nicht zu erwarten.

Die beliebte und immer wieder erhobene Forderung nach Entbürokratisierung ist billig und verfehlt. Sie verkennt bereits, daß die allseits konsentierten Sparzwänge bei Beibehaltung des Ideals der Verteilungsgerechtigkeit bürokratische Aktivitäten steigern. Außerdem nährt sie die Illusion, durch Aufhebung von Vorschriften und Einschrumpfung von Administrationen, Flexibilität und Effizienz erreichen zu können. Wenn es jemals dazu käme, was nicht der Fall sein wird, würde sich der groteske Irrtum schnell herausstellen. Denn einerseits bleiben auch eine kleine Bürokratie und ein winziges Corpus von Vorschriften immer noch eine Bürokratie und ein Vorschriftengewirr. Andererseits bräche ohne die Bürokratie und ihre Regeln das Chaos aus.

Ordnung ist eine rein formale Kategorie. Sie ist dem Himmel und der Hölle in gleicher Weise zu Diensten. Das Wirtschaftswunder der Deutschen war zuvörderst eine kollektive Ordnungsleistung, und der Obersturmbannführer Eichmann verstand seine Transportorganisation als stabilisierenden Ordnungsvollzug, der, wie er, über andere Deutungen sichtlich verstimmt, zu Protokoll gab, verhinderte, daß jeder auf eigene Faust sein Privatpogrom veranstalten konnte.

Der Teufel sitzt allein in den Köpfen. Er zeigt seine Hörner dort, wo ohne Heuchelei, die es gewiß auch gibt, Mitleid und Selbstmitleid ernsthaft in der Szene zusammenfließen, daß dem Angeklagten von seinen Richtern erklärt wird: "Es tut uns leid, daß wir Sie hinrichten müssen. Aber das Gesetz will es so". Was sich hier kundtut, ist nicht Aufklärung über den vorgeblichen Willen einer Verordnung, sondern das geistige und emotionale Elend der besinnungslosen Maschinisten der Norm.

Zur Verdeutlichung: Normen sind generell und abstrakt, und müssen es sein. Eine Norm die speziell und konkret wäre, erwiese sich als Befehl. Auch Befehle können ordnen, meistens sogar leichter und schneller als eine Norm - aber das ist nicht die Welt, wie wir sie uns vorstellen.

Ob unser jeweiliger Fall ein Fall für die Norm ist, entscheidet nicht diese und auch nicht die Institution, sondern ein Mensch. Die Norm ist nur ein stummer Haufen Druckerschwärze, die nicht argumentiert. An dieser Stelle, genau da, wo die Entscheidung getroffen und begründet wird, wenn wir mit unseren Anträgen, Vorschlägen, Initiativen subsumiert werden oder auch nicht, wo dem Wissenschaftler die Vorschrift vor die Stirn geknallt wird, damit er das Denken aufgibt, da unterscheidet sich der freie, beurteilende Mensch vom bürokratischen Tier.

Das Erstaunliche und Frappierende ist: kein Bürokrat will bürokratisch sein und kaum einer glaubt sich betroffen. Der Vorschriftenknecht seufzt unter der Last seiner Vorschriften und wünscht sich Nachkriegszeiten, in denen man Ordnung aufbaut ohne viel zu fragen, während man nach geschehenem Aufbau die Ordnung pflegen und dauernd fragen muß. Ein kleiner Krieg oder besser noch: eine größere Katastrophe wäre zur Wiedergewinnung der Freiheit nicht unwillkommen. Das aber heißt nichts anderes als: sie wissen nicht eigentlich, was sie tun. Bürokratenhunde, die zu sabbern beginnen, wenn das normative Glöckchen läutet.

Weshalb man ihnen auch nur mäßig böse sein kann. Denn Bürokratie ist offenbar nicht durchweg der feindliche Andere. Die Bürokraten sind auch wir selbst - manchmal im Namen Europas, manchmal im Namen Bolognas, manchmal im Namen des Grundgesetzes.

Entbürokratisierung - das müßte demnach heißen, daß wir lernen und lehren, den komplizierten Weg vom Allgemeinen zum Besonderen nicht geistlos dahinzustolpern, sondern wägend und vergleichend zu beschreiten, ihn nicht kriechend und winselnd zurückzulegen, und vor allem: nicht vorschnell aufzugeben, wenn von oben - und wie hoch auch immer - gewünscht und erwartet wird, sondern an Einstein zu denken und furchtlos, humorvoll und entschieden nach anderen Möglichkeiten zu suchen und auf anderen Möglichkeiten zu bestehen.

So läßt sich Reue fruchtbar in Besserung transformieren.

Reue, sagt Hannah Arendt, ist eine republikanische Tugend. Versuchen wir, gute Republikaner zu sein.

ES GILT DAS GESPROCHENE WORT

 

 

Leibniztag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

am 25. Juni 2005

 

 

Vorstellung des neuen Präsidenten

 

 

Dieter Simon

 

Dieser Programmpunkt hat eine Geschichte.

Ursprünglich sollte er lauten: Übergabe des Präsidentenamtes an Günter Stock.

Das Präsidentenamt wird aber heute nicht übergeben.

Weniger deshalb, weil ich es nicht hergeben möchte, als deshalb, weil Günter Stock es nicht haben will. Und er will nicht, weil er nicht kann. Seine Pflichten fesseln ihn noch bis zum Ende dieses Jahres.

Ein Amt zu übergeben, dessen Geschäfte anschließend vom Inhaber nicht geführt werden, schien uns nicht zweckmäßig. Die Präsidentenwahl deshalb mit Stillschweigen zu übergehen, aber gänzlich unangebracht.

So entstand das Stichwort: Vorstellung des Präsidenten, wobei offenblieb, wer wen vorstellt. Der Alte den Neuen oder der Neue den Neuen, das heißt: rede ich über ihn oder er über sich? Am Ende haben wir uns zur Kooperation entschlossen und reden jetzt beide.

Unbekannte vorzustellen, ist eine leichte Aufgabe.

Man greift nach dem überall zugänglichen wissenschaftlichen Steckbrief und liest ihn dem Publikum vor. Daten und Fakten!

Im gegebenen Fall hieße das: Jahrgang 1944, Abitur, Bundeswehr, Medizin, Schering AG, Professor, Pharmakologie-Institut, Vorstandsmitglied der Schering AG, Präsident der BBAW. Dazwischen werden eingestreut die zahlreichen Auszeichnungen und Ehrungen und die zahllosen Mitgliedschaften und Funktionen bzw. Mandate.

Der Hörer vernimmt alles, ist (in der Regel) tief beeindruckt und tröstet sich damit über den Umstand hinweg, daß er eigentlich nichts weiß. Das muß den Vorstellenden freilich nicht irritieren. Denn man kann ihm keinesfalls vorwerfen, er habe einen Unbekannten nicht bekannt gemacht.

Bereits Bekannte vorzustellen, ist eine schwere Aufgabe.

Man kann unmöglich die "Daten und Fakten", die in den letzten Wochen mehr oder weniger richtig durch die Gazetten gegeistert sind, erneut herunterleiern. Also: "Günter Stock, Jahrgang 1944, besuchte 1950 bis 1955 die Volksschule in Pforzheim, woselbst er auch das Gymnasium 1965 mit Erfolg absolvierte ..." usw.

Das alles ist hinlänglich bekannt. Außerdem darf man sich fragen, ob es die Vorstellung Stocks beeinträchtigen würde, wenn es auf alle Zeiten unbekannt bliebe.

Die Vorstellung Prominenter muß ohne Zweifel Nachrichten anderer Art anbieten, um ein farbiges Bild dessen zu zeichnen, von dem man sich manches wünscht und vieles erwartet. 

Vier Sachverhalte will ich kurz beschreiben und damit das bislang verbreitete, etwas dürre Stock-Bild anreichern.

 

Zunächst und erstens ein Hinweis auf den wirklich allerersten Anfang des neuen Präsidenten:

Stock ist am 7. Februar 1944 geboren. Aber nicht etwa in Pforzheim, wie seine mit der dortigen Volksschule beginnende, wissenschaftliche Laufbahn nahelegt, sondern in Šidski Banovci. 

Vermutlich wissen nur wenige von Ihnen, wo das liegt, und auch der Hinweis "vormals in Jugoslawien, heute Kroatien" bringt nicht mehr als eine vage geographische Aufhellung. Es ist auch ungewiß, ob der dort Geborene selbst weiß, wo sein Geburtsort liegt. Bedeutsam ist das allerdings nicht. Entscheidend ist, um welche Art von Ort es sich handelt, denn es ist keineswegs gleichgültig, ob man zuerst in ein helles oder in ein trübes Licht blickt, wenn man zur Welt kommt.

Deshalb ist wichtig, daß es sich bei Šidski Banovci einerseits um eine sehr alte Siedlung handelt und andererseits, daß diese Siedlung sich in einer niemals gemütlich gewesenen Region befindet.

Als die republikanischen Römer sich Sirmium, so hieß die Gegend damals, einverleiben wollten, mußten sie zunächst die ortsansässigen Kelten massakrieren. In der Kaiserzeit sprach man von Pannonien und schätzte oder fürchtete, je nach politischer Seite, die von dort stammenden Krieger. Bis sich dort ein  österreichisch-ungarisches Dorf formieren konnte, mußten sich nacheinander die Goten und die Hunnen, die Bulgaren, die Ungarn, die Serben und die Türken wechselseitig umbringen.

Seit dem 18. Jahrhundert siedelten die Donauschwaben an dieser Stelle, markierten und sicherten die Grenze zwischen Kroaten und Serben.  Die "Donauschwaben", die sich diesen völlig falschen Namen erst im 20. Jahrhundert zuzogen, waren ein unternehmungslustiger und unerschrockener Menschenschlag aus verschiedenen deutschen Landen, der beständige Tüchtigkeit mit wißbegierigem Blick nach draußen verband. Im Jahre 1944 dürfte Šidski Banovci für Deutsche allerdings ein äußerst ungemütlicher Flecken gewesen sein, den man des Überlebens wegen schleunigst räumen mußte.

Was bedeutet dies für die Beurteilung der geburtsortlichen Mitgift des Säuglings Stock?

Es bedeutet: Natürliche Internationalität, Toleranz und multikulturelles Verständnis, Kampfkraft, Durchsetzungsfähigkeit und den Mut und die Klugheit zum rechtzeitigen Rückzug, wenn Positionen unhaltbar geworden sind.

 

Es folgt, zweitens, eine Überlegung, die an die Forschungstätigkeit des künftigen Präsidenten anknüpft:

 

Wenn man als lesekundiger Laie die Beschreibungen und Würdigungen seiner Forschungsarbeiten durchsieht, stößt man auf einen Ausdruck, der in jüngster Zeit große Karriere gemacht hat. In den zitierten Texten von und über Stock ist fortwährend von den Kerngebieten des limbischen Systems, vom Stoffwechsel biogener Amine im limbischen System oder vom nucleus amygdalae, dem Mandelkern, im limbischen System die Rede.

Dieses limbische System ist in der Akademie kürzlich an unerwarteter Stelle aufgetaucht. Einige Kollegen haben sich nämlich darangemacht, die Existenz des sogenannten freien Willens zum Ärger vieler anderer kurzerhand für eine Illusion zu erklären und zu behaupten, daß dann, wenn wir etwas wollen, zum Beispiel, jetzt bald nach Hause gehen, wir uns nur einbilden, daß wir das wollen, während wir uns in Wahrheit lediglich das Wollen eines anderen zu eigen machen. Dieser andere ist das limbische System, dessen Entscheidungen von unserem Bewußtsein nicht kontrolliert werden können.

Sollte das zutreffen, dann gewinnen wir in Günter Stock einen Mann, der sich wie kein anderer mit den Schalthebeln des Determinismus befaßt hat und sich in dem dunklen Bereich, der vor unserem Willen liegt, auskennt wie andere nicht einmal in der Sonne ihres vermeintlichen Willens.

Es ist eine alte Erfahrung, daß der, welcher einen Mechanismus durchschaut, ihn, wenn nicht zu zerstören, so auf jeden Fall umzustellen in der Lage ist. Ich riskiere die These, daß wir wünschen und erwarten können, daß Günter Stock die Willensillusionen unserer Freunde und Feinde zum Segen der Akademie zu determinieren in der Lage ist.

 

Drittens: Ein wenig bekanntes Ereignis aus des neuen Präsidenten wissenschaftspolitischem Engagement:

In einem Interview vom August 2002 hat Stock sich gewünscht, der Regierende Bürgermeister von Berlin möge die Wissenschaftspolitik Berlins zur Chefsache machen. Wie Klaus Wowereit diese Zumutung aufgenommen hat, ist nicht bekannt geworden.

Einige Akademiemitglieder meinen, er habe sie begeistert aufgegriffen und der Umstand, daß davon nicht das Mindeste zu bemerken ist, sei in Zeiten generellen Niederganges ein Beweis von Effizienz.

Andere verweisen darauf, daß der August der Monat der sogenannten Sommerpause ist, und vermuten, Wowereit habe die Stocksche Erwartung nicht vernommen. Sie zitieren Stock, der gesagt hat: "Ich bin nicht pessimistisch", und "wir brauchen einen langen Atem", um zu begründen, daß die Botschaft vielleicht noch im Senat ankommen könnte, eine Hoffnung, die von anderen mit dem Stockzitat radikalisiert wird: "Wir werden die nächsten 10 Jahre gut damit beschäftigt sein, das herauszufinden".

Wieder andere glauben, der Regierende habe sich zwei andere Stocksche Feststellungen zu eigen gemacht, um weiser Untätigkeit zu frönen, nämlich zum einen den Satz: "Wissenschaftliche Zukunft kann man nicht in Regeln von heute zwängen, denn niemand weiß, was die Zukunft bringt", und zum anderen die Meinung: "Ich glaube nicht, daß der Staat so intelligent reglementieren kann, wie es nötig wäre".

Schließlich gibt es noch die Ansicht, der Chef der Landesregierung habe die Stockschen Wünsche an den zuständigen Senator delegiert. Die Unsichtbarkeit desselben, die gelegentlich schon bis zur Vermutung seiner Nichtexistenz radikalisiert wurde, wird damit erklärt, daß ihn die Hinweise von Stock: "Ich würde mir eine engere Abstimmung zwischen Wissenschaftssenat und Wirtschaftssenat wünschen" oder "Mehr Kooperation zwischen den Verwaltungen und verläßliche Zusagen würden dazu beitragen, die Wissenschaftler in der Stadt enger zusammenzubringen" in tiefe Verwirrung stürzten, und daß er zugleich insgeheim daran arbeitet, Stocks Kritik "Das öffentliche Forschungssystem bietet zuwenig Freiräume" durch Beseitigung dieses Systems leerlaufen zu lassen.

Meine eigene Deutung des Vorgangs, die ich hier nicht ausführen kann,  würde demgegenüber an Stocks Weisheit anknüpfen: "Man kann nur intelligent mit Partnern umgehen, wenn man selbst Wissen und Erfahrung hat".

 

Viertens und zuletzt, aus seinem Leben als gefeierter Mann der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Politik, eine bei Jürgen Mittelstraß abgeschriebene Charakteristik.

"Wo sich Wissenschaft und Forschung ihrer organisatorischen und strategischen Probleme bewußt werden und die richtigen Köpfe suchen, ist Günter Stock der gefragteste Kopf. Er ist ein heimlicher Dirigent des deutschen Forschungswesens, omnipräsent und nachhaltig, früher hätte man gesagt: eine graue Eminenz - überaus eminent, aber gar nicht grau. Im Gegenteil quicklebendig, weltzugewandt, profilscharf, im Lichte (wissenschaftlicher Aufmerksamkeit), nicht im Schatten gehend. Und er ist, was auf den ersten Blick nicht so erscheinen mag, ein leidenschaftlicher Mann. Er liebt den Kampf der Argumente, allerdings nur der besseren Argumente untereinander, und vermittelt zugleich, stets erfolgreich, zwischen den Fronten. Er geht - nie um einen Einfall, eine andere Sicht der Dinge verlegen - weit voraus und läßt sich doch, der Sache zuliebe immer wieder einholen, um erneut vorauszugehen. In ihm und seinem Tun und Denken wohnt das Visionäre neben dem Handfesten, der Idealist neben dem Realisten."

Auch wer glaubt, jetzt schon eine viel bessere Vorstellung von dem Vorgestellten zu haben, darf gespannt sein zu hören, wie Günter Stock sich selbst vorstellt und was er sich vorstellt.

 

 

Günter Stock

 

 

Sehr geehrte Frau Ministerin Bulmahn,

Exzellenzen,

sehr geehrte Präsidenten,

lieber Herr Simon,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

nach der freundlichen Einführung von Dieter Simon bleibt zu meiner Person nichts wirklich Interessantes mehr zu sagen. Ich möchte stattdessen die Gelegenheit nutzen, ein wenig über Wissenschaft und Verantwortung für Wissenschaft zu sprechen.

 

Wissenschaft, das ist meine feste Überzeugung, insbesondere in diesem Jahrhundert der biologischen Wissenschaft, wird ganz ähnlich, wie es die physikalischen Wissenschaften des letzten Jahrhunderts waren, sogenannte "Big Science". Und mindestens im gleichen Ausmaß - wie es die Physik war - ist sie abhängig von und angewiesen auf ihre Einbettung in das gesamte Spektrum der Wissenschaften, insbesondere aber der Geisteswissenschaften.

 

Wissenschaft als Paradigma rationaler Lebensformen, als Arbeit des Menschen an seiner eigenen Natur, als Lebensgestalterin, als Zukunftsgarant und als Gedächtnis für das, was war, ist nach meiner festen Überzeugung aufgerufen, sich um die eigenen Belange selbst zu kümmern und die eigenen Ziele sorgfältig zu definieren, sie vor Augen zu behalten und dafür einzutreten.

 

Wissenschaft braucht, um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, zunächst Autonomie, aus der heraus auch Selbstbindung erwächst und Einbindung in das Gesamtwohl. Sie muss sich in allen Belangen, die sie selbst betreffen, in den Dialog, ja wo nötig in den Streit einmischen. So in die Föderalismusdebatte, in der die Wissenschaft als organisierte Einheit fast nicht zu hören war, und wenn, dann nur mit der Melodie: "Es muss alles so bleiben wie es ist und war." Wissenschaft muss sich in Fragen der Exzellenz, des Exzellenzerhalts und der Exzellenzförderung eindeutig positionieren und zu Wort melden, um selbst Sorge dafür zu tragen, dass der Maßstab, an dem sich Exzellenz zu messen hat, ein internationaler und wissenschaftlicher ist.

 

Und schließlich, Wissenschaft muss die Kraft aufbringen, aus der notwendigen Disziplinarität herauszutreten und Innovation dort zu suchen, wo sie möglicherweise auch zu finden ist, nämlich zunehmend im Transdisziplinären. Dafür die Bereitschaft zu fördern und gleichzeitig die Organisations- und Förderstrukturen bereitzustellen, ist eine zentrale Aufgabe. Eine Aufgabe, die möglicherweise nie so aktuell war wie heute, denn Realität moderner Wissenschaft ist, dass die Bezogenheit aufeinander, die Abhängigkeit verschiedener Wissenschaftsdisziplinen voneinander zum Erreichen eines bestimmten Zieles wahrscheinlich nie größer war als heute. Ich glaube in der Tat, dass es eine neue Einheit der Wissenschaften gibt, und damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind zwei Themen brennend aktuell, nämlich der Wunsch Leibnizb, den er im März 1700 zur Akademiegründung formuliert hatte, Theoria cum Praxi zu vereinigen, und das Postulat Alexander von Humboldts, der 1809 vor dieser, vor unserer Akademie gesagt hat: "In Erwägung, dass die Wissenschaften ein innig zusammenhängendes Ganzes bilden, keine isoliert ist, sondern sie alle untereinander in Wechselwirkung stehen, folglich die höheren wissenschaftlichen Ziele bloß durch das vereinte Bemühen von Männern" - heute muss das Zitat erweitert werden: von Männern und Frauen - "welche sich der Bearbeitung ihrer Fächer teils ausschließlich, teils hauptsächlich widmen, erhalten werden können." Eine Erkenntnis und ein Auftrag zugleich, der von Christian Meier - ganz interessant für die Kenner der Materie und vielleicht auch zu seiner eigenen Überraschung - anlässlich der Wiederkonstituierung unserer Akademie im Jahre 1992 als die Fortführung der vormals Preußischen Akademie der Wissenschaften postuliert wurde, was allerdings in dieser direkten Form nicht Verfassungsauftrag wurde. Die Linie geht weiter zu Wolfgang Frühwald, der uns ja durchaus als - sagen wir es einmal neutral - Skeptiker naturwissenschaftlichen Fortschreitens bekannt ist, und der uns einmal dazu aufgefordert hat, gesellschaftsnahe Grundlagenforschung zu kultivieren als Aufgabe einer Akademie neuen Typs. Akademien - und dies würde ich gern festhalten - sind der Ort, an dem größtmögliche Exzellenz, aus den verschiedenen Disziplinen kommend, zusammengeführt wird, um im Prinzip der Arbeitsgruppen, die grundsätzlich transdisziplinär anzulegen sind, genau diese Form neuen Erkenntniszuwachses zu ermöglichen und zu generieren. Akademien als Übungsort für notwendige Exzellenz in Transdisziplinarität. Aber, nicht als theoretisches Konstrukt, sondern um mit Jürgen Mittelstraß zu sprechen, als eine ideale Möglichkeit, selber zu arbeiten und nicht Forschungsarbeit zu organisieren. Denn wollte man diese Arbeit organisieren, wäre der Gedanke der Exzellenz im Disziplinaren und die versuchte Exzellenz im Transdisziplinaren als Individualleistung nicht wirklich erreichbar.

 

Akademien, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind Orte höchster Autonomie. In keiner wissenschaftlichen Institution wird Autonomie so selbstverständlich gelebt und vorgegeben wie in der Akademie: Weitestgehende Unabhängigkeit von vorgesetzten Institutionen, allein schon die Tatsache, von zwei Landesregierungen getragen zu werden, aber auch die größtmögliche Unabhängigkeit von Förderinstitutionen. Wo finden wir das sonst in dieser Dimension und Breite? Autonomie ist nicht nur das Darstellen und der Erhalt von Freiräumen, sondern in der allerersten Linie bedeutet Autonomie eine große Verpflichtung und Verantwortung. Eine Verpflichtung, die es uns geradezu auferlegt, im öffentlichen Diskurs über strittige, komplizierte Themen, wo immer möglich, Fakten beizusteuern, und wo immer geboten, Positionen zu beziehen. Eine Gesellschaft, die maßgeblich von Wissenschaft geprägt und entwickelt wird, eine Gesellschaft wie unsere, die von den Ergebnissen der Wissenschaft lebt, gut lebt, eine solche Gesellschaft hat Anspruch auf eine klare Aussage der Wissenschaften und der Wissenschaftler zu wichtigen und grundlegenden  kontroversen Themen. So ist letztendlich auch für eine Regierung die Stellungnahme eines paritätisch mit verschiedenen Kompetenzen zusammengesetzten Rates, z.B. des Ethikrates, zu wichtigen Forschungsthemen von großer Relevanz. Wichtig ist aber auch, hier die reine und wenn möglich klare Stimme der Wissenschaft und der Wissenschaftler in solchen Fragen zu präsentieren, und zwar nicht nur im Sinne disziplinär organisierter Fachmeinungen, sondern, wie eingangs erwähnt, unter Einbeziehung aller Wissenschaften, die zur Klärung beitragen können und demzufolge auch beitragen müssen. Gesellschaftsnahe Grundlagenforschung, gesellschaftsnahe Kenntnisvermittlung, dies, so denke ich, ist eine zentrale Aufgabe auch unserer Akademie zu Berlin. Bei ethischen Fragen ist es nicht nur interessant, wie die Nutzen-Risikoabwägung, z.B. innerhalb der Medizin, aussieht, sondern es ist auch wichtig, unterschiedliche Lebensbereiche bei dieser Nutzen-Risikoabwägung zu berücksichtigen. Die Wissen-schaften in ihrer gesamten Breite - Natur- und Technikwissenschaften, vor allem aber auch die Geistes- und Sozialwissenschaften sind aufgerufen, sich bei dieser Nutzen-Risikoabwägung wissenschaftlich Gehör zu verschaffen. Dies kann nicht mit dem Anspruch einer einzig möglichen und daher richtigen Sichtweise, im Sinne von endgültig, geschehen, sehr wohl aber im repräsentativen Sinne, im Sinne der mehrheitsfähigen Stellungnahme führender Wissenschaftler. Solche Stellungnahmen werden, sofern sie von anerkannten wissenschaftlichen Persönlichkeiten getragen werden, mit Sicherheit bei den politischen Beratungen gehört werden. Es geht - so denke ich - nicht an, dass Akademien, um bei uns selbst zu beginnen, sich zu zentralen Fragen, was forschungspolitisch, forschungstechnisch erlaubt sein soll und was nicht, erst äußern, nachdem gesellschaftliche, politische Gremien ihre Meinung formuliert und meist auch schon den öffentlichen Diskurs besetzt haben. Umgekehrt muss es sein! Zuerst die Wissenschaft, um dem Wissen eine Bahn zu brechen, um die Vielfalt der Fragestellung und die Komplexität der Problematik aufzuzeigen, und um dann auf dem Boden eines erweiterten Wissens die Debatte anderen und letztlich dann auch entscheidenden Gruppen zu übergeben. Akademien, insbesondere unsere Akademie zu Berlin, sollten sich und müssen sich diesen Aufgaben stellen, wenn sie verantwortungsvoll mit ihrem Freiraum, mit ihrer Autonomie und mit ihrem Auftrag umgehen möchten.

 

Wissenschaft hat eine tiefe Verpflichtung, sich immer wieder ihrer Herkunft zu versichern. Gadamer sagte einmal sehr prägnant: Zukunft ist Herkunft. Orientierung, die wir suchen, erhalten wir häufig nicht aus der alleinigen Beschäftigung mit der Zukunft oder der Gegenwart. Orientierung - zugegebenermaßen oftmals unbewusst - erhalten wir zu großen Teilen auch aus dem, was war. Wenn wir heute unsere Gegenwart und unsere Zukunft sehr kostbar erachten, wieso sollte die Gegenwart und Zukunft derjenigen, die vor 100 - 200 Jahren und noch früher gelebt haben - also damit unsere Vergangenheit - weniger kostbar sein?

 

Es ist in einer Zeit, in der Informationen fast pixelartig große Stücke unseres alltäglichen Wissens bestimmen, insofern auch geboten, sich mit großer Sorgfalt dem zuzuwenden, was früher einmal Gegenwart und Zukunft war. Langzeitvorhaben sind, sofern sie richtig zielorientiert und wissenschaftlich sorgfältig durchgeführt werden, Teil unseres kulturellen Gedächtnisses, und somit auch Fundament unserer Kultur. Ich würde allerdings gern sehen, dass wir neben die Langzeitvorhaben auch Langzeitaufgaben stellen - Langzeitaufgaben, wie sie möglicherweise nur in einer Akademie verwirklicht werden können und die ganz konkret Zukunft sichern. Was meine ich damit? Lassen Sie mich ein kurzes Beispiel ausführen. Wir erinnern uns alle noch an die große Debatte über grüne Gentechnologie in den 90er Jahren. Viele Wissenschaftler hatten sich damals intensiv darum bemüht, Überzeugungsarbeit zu leisten, Wissen zu vermitteln, Erklärungen anzubieten und für die Freiheit der Forschung auf diesem Gebiet zu kämpfen. Im Jahre 2004 hat der Deutsche Bundestag dann ein Gesetz verabschiedet, welches im Prinzip all die Bemühungen der 90er Jahre über Nacht zunichte gemacht hat, hinzu kamen auch noch Vorwürfe an die Wissenschaft, dass sie sich und dass sich die Wissenschaftler nicht genügend in dieser Frage zu Wort gemeldet hätten. So als seien all die Argumente, die vor 10 - 15 Jahren die öffentliche Debatte bestimmten, nichtig und nicht mehr existent. Richtig ist allerdings, dass der Widerstand der Wissenschaft im letzten Jahr deutlich erlahmte; aber ich bitte Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, wie lange soll denn ein Wissenschaftler denselben Vortrag und dieselben Argumente praktisch im "gefrorenen Zustand" halten? Solange, bis das Parlament schließlich eine Gesetzesvorlage machtG Dies ist schlechterdings nicht möglich. Das "Frischhalten" von Argumenten, das aktive Zurverfügungstellen von neuen Argumenten kann nur institutionell abgesichert werden. Eine Universität mit ihrem ständigen personellen Wechsel kann dieses nicht leisten. Wissenschaftliche Institute werden Mühe haben, sich solch einer Aufgabe zu stellen. Es wäre zu überlegen, ob nicht Akademien - ggf. in einer neuen speziellen Organisationsform - der richtige Ort wären, um solche Langzeitaufgaben zu übernehmen. Der gerade erscheinende Gentechnikbericht aus unserer Akademie könnte ein Anfang sein, langfristig wichtige Entwicklungen zu beobachten, zu bewerten und argumentativ zu begleiten, um bei Bedarf auch reaktionsfähig zu sein.

 

Lassen sie mich, meine sehr verehrten Damen und Herren, noch kurz einen letzten Punkt ansprechen. Die zivile Gesellschaft, die ja in aller Munde ist, also die bürgerliche Gesellschaft, so ist mein Befund, macht die Wissenschaft zunehmend weniger zu ihrem eigenen Anliegen. Die Unterstützung, die Förderung der Wissenschaft steht nicht mehr im Zentrum bürgerlichen Engagements. Auch hier, in unserer Akademie, mit unserem Verein Proacademia und dessen Mitgliedern haben wir eine hervorragende Möglichkeit, Teile unserer Bürgergesellschaft an die Akademie heranzuführen, an Themen der Wissenschaft zu interessieren, Vertrauen zu schaffen und sie auf diese Weise für die Wissenschaft zu gewinnen und sie auf diese Weise zu bewegen, wieder Verantwortung in verstärktem Maße für uns, für die Wissenschaft zu übernehmen. Auch der zu gründende Senat ist in diesem Sinne eine hervorragende Brücke in die Gesellschaft.

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf mich auch hier noch einmal für die Übertragung dieser schönen Aufgabe bedanken. Ich freue mich, mit möglichst vielen von Ihnen, die in der Akademie sind, aber auch mit möglichst vielen von Ihnen, die nicht oder noch nicht in der Akademie sind, zusammenzuarbeiten. Vor allem aber gilt mein Dank Dieter Simon, der mit seiner prägnanten Sicht der akademischen Dinge, der mit seiner Kraft und Ausdauer die Akademie so strukturiert und geprägt hat, dass es eine Freude ist weiter zu machen, wo er aufhören wird - und dass es eine große Verantwortung ist, mit dem Erbe klug umzugehen.

Leibniztag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

am 25. Juni 2005

 

 

Ansprache Günter Stock

 

 

 

 

Sehr geehrte Frau Ministerin Bulmahn,

Exzellenzen,

sehr geehrte Präsidenten,

lieber Herr Simon,

liebe Kolleginnen und Kollegen,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

nach der freundlichen Einführung von Dieter Simon bleibt zu meiner Person nichts wirklich Interessantes mehr zu sagen. Ich möchte stattdessen die Gelegenheit nutzen, ein wenig über Wissenschaft und Verantwortung für Wissenschaft zu spre­chen.

 

Wissenschaft, das ist meine feste Überzeugung, insbeson­dere in diesem Jahrhundert der biologi­schen Wissenschaft, wird ganz ähnlich, wie es die physika­lischen Wissenschaften des letzten Jahrhunderts waren, sogenannte „Big Science“. Und mindestens im gleichen Ausmaß – wie es die Physik war – ist sie abhängig von und angewiesen auf ihre Einbettung in das gesamte Spektrum der Wissenschaften, insbesondere aber der Geisteswissenschaften.

 

Wissenschaft als Paradigma rationaler Lebensformen, als Arbeit des Menschen an seiner eigenen Natur, als Lebensge­stalterin, als Zukunftsgarant und als Gedächtnis für das, was war, ist nach meiner festen Über­zeugung aufgerufen, sich um die eigenen Belange selbst zu kümmern und die eigenen Ziele sorgfältig zu definieren, sie vor Augen zu behalten und dafür einzutreten.

 

Wissenschaft braucht, um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, zunächst Autonomie, aus der heraus auch Selbstbindung erwächst und Einbindung in das Gesamtwohl. Sie muss sich in allen Belangen, die sie selbst betreffen, in den Dialog, ja wo nötig in den Streit ein­mischen. So in die Födera­lismusdebatte, in der die Wissenschaft als orga­nisierte Einheit fast nicht zu hören war, und wenn, dann nur mit der Melodie: „Es muss alles so bleiben wie es ist und war.“ Wissenschaft muss sich in Fragen der Exzellenz, des Exzellenzerhalts und der Exzel­lenzförderung eindeutig po­sitionieren und zu Wort melden, um selbst Sorge dafür zu tragen, dass der Maßstab, an dem sich Exzellenz zu messen hat, ein internationaler und wissen­schaftlicher ist.

 

Und schließlich, Wissenschaft muss die Kraft aufbringen, aus der notwendigen Disziplinarität herauszutreten und In­novation dort zu suchen, wo sie möglicherweise auch zu finden ist, nämlich zunehmend im Transdisziplinären. Dafür die Bereit­schaft zu fördern und gleichzeitig die Organisa­tions- und Förderstrukturen bereitzustellen, ist eine zentrale Aufgabe. Eine Aufgabe, die möglicherweise nie so aktuell war wie heute, denn Realität moderner Wissenschaft ist, dass die Bezogenheit aufeinander, die Abhängigkeit verschiedener Wissenschafts­disziplinen voneinander zum Erreichen eines bestimmten Zieles wahr­scheinlich nie größer war als heute. Ich glaube in der Tat, dass es eine neue Einheit der Wissenschaften gibt, und damit, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind zwei Themen brennend aktuell, nämlich der Wunsch Leibniz¢, den er im März 1700 zur Akademiegründung formuliert hatte, Theoria cum Praxi zu vereinigen, und das Postulat Alexander von Humboldts, der 1809 vor dieser, vor unserer Akademie gesagt hat: „In Erwägung, dass die Wissen­schaften ein innig zusam­menhängendes Ganzes bilden, keine isoliert ist, sondern sie alle untereinander in Wechselwirkung stehen, folglich die höheren wissenschaft­lichen Ziele bloß durch das vereinte Bemühen von Männern“ – heute muss das Zitat erweitert werden: von Männern und Frauen – „welche sich der Bearbeitung ihrer Fächer teils ausschließlich, teils haupt­sächlich widmen, er­halten werden können.“ Eine Erkenntnis und ein Auftrag zugleich, der von Christian Meier - ganz interessant für die Kenner der Materie und vielleicht auch zu seiner eigenen Überraschung - anlässlich der Wieder­konstituierung unserer Akademie im Jahre 1992 als die Fortführung der vormals Preußischen Akademie der Wissenschaften postuliert wurde, was allerdings in dieser direkten Form nicht Verfas­sungsauftrag wurde. Die Linie geht weiter zu Wolfgang Frühwald, der uns ja durchaus als - sagen wir es einmal neutral - Skeptiker naturwissenschaftlichen Fortschreitens bekannt ist, und der uns einmal dazu aufgefordert hat, gesell­schaftsnahe Grundlagenforschung zu kultivieren als Auf­gabe einer Akademie neuen Typs. Die Brücke mag ein wenig kühn sein und die schönsten Brücken sind in der Tat kühn: Akademien – und dies würde ich gern festhalten – sind der Ort, an dem größtmögliche Exzellenz, aus den verschiedenen Dis­ziplinen kommend, zusammengeführt wird, um im Prinzip der Arbeits­gruppen, die grundsätzlich transdisziplinär anzulegen sind, genau diese Form neuen Erkenntnis­zuwachses zu ermöglichen und zu generieren. Akademien als Übungsort für notwendige Exzellenz in Transdis­ziplinarität. Aber, nicht als theoretisches Konstrukt, sondern um mit Jürgen Mittelstraß zu sprechen, als eine ideale Möglichkeit, selber zu arbeiten und nicht Forschungsarbeit zu organisieren. Denn wollte man diese Arbeit organisieren, wäre der Gedanke der Exzellenz im Disziplinaren und die versuchte Exzellenz im Transdisziplinaren nicht wirklich erreichbar.

 

Akademien, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind Orte höchster Autonomie. In keiner wissen­schaftlichen Institution wird Autonomie so selbstverständlich gelebt und vor­gegeben wie in der Akademie: Weitestge­hende Unabhängig­keit von vorgesetzten Institutionen, allein schon die Tatsache, von zwei Landesregierungen getragen zu werden, aber auch die größtmögliche Unabhängigkeit von Förderinstitutionen. Wo finden wir das sonst in dieser Dimension und Breite? Auto­nomie ist nicht nur das Darstellen und der Erhalt von Frei­räumen, sondern in der allerersten Linie bedeutet Autonomie eine große Verpflichtung und Verantwortung. Eine Verpflich­tung, die es uns geradezu auferlegt, im öffentlichen Diskurs über strittige, komplizierte Themen, wo immer mög­lich, Fakten beizusteuern, und wo immer geboten, Positionen zu beziehen. Eine Gesellschaft, die maßgeblich von Wissenschaft geprägt und entwickelt wird, eine Gesell­schaft wie unsere, die von den Ergebnissen der Wissen­schaft lebt, gut lebt, eine solche Gesellschaft hat Anspruch auf eine klare Aussage der Wissen­schaften und der Wissen­schaftler zu wichtigen und grundle­genden  kontroversen The­men. So ist letztendlich auch für eine Regierung die Stellungnahme eines paritätisch mit verschie­denen Kompetenzen zusammengesetzten Rates, z.B. des Ethikrates, zu wichtigen Forschungsthemen von großer Referenz. Wichtig ist aber auch, hier die reine und wenn möglich klare Stimme der Wissenschaft und der Wissen­schaftler in solchen Fragen zu präsentieren, und zwar nicht nur im Sinne disziplinär organisierter Fachmeinungen, sondern, wie eingangs erwähnt, unter Ein­beziehung aller Wissenschaften, die zur Klärung beitragen können und demzufolge auch beitragen müssen. Gesellschaftsnahe Grundlagenforschung, gesellschaftsnahe Kenntnisver­mittlung, dies, so denke ich, ist eine zentrale Aufgabe auch unserer Akademie zu Berlin. Bei ethischen Fragen ist es nicht nur interessant, wie die Nutzen-Risikoabwägung, z.B. innerhalb der Medizin, aus­sieht, sondern es ist auch wichtig, unterschiedliche Lebensbereiche bei dieser Nutzen-Risikoabwägung zu berücksichtigen. Die Wissen-schaften in ihrer gesamten Breite – Natur- und Technik­wissenschaften, vor allem aber auch die Geistes- und Sozial­wissenschaften sind aufgerufen, sich bei dieser Nutzen-Risiko­abwägung wissenschaftlich Gehör zu verschaffen. Dies kann nicht mit dem Anspruch einer einzig möglichen und daher richtigen Sichtweise, im Sinne von endgültig, geschehen, sehr wohl aber im repräsentativen Sinne, im Sinne der mehrheits­fähigen Stellungnahme führender Wissenschaftler. Solche Stellungnahmen werden, sofern sie von anerkannten wissen­schaftlichen Persönlichkeiten getragen werden, mit Sicherheit bei den politischen Beratungen gehört werden. Es geht - so denke ich - nicht an, dass Akademien, um bei uns selbst zu begin­nen, sich zu zentralen Fragen, was forschungspoli­tisch, forschungstechnisch erlaubt sein soll und was nicht, erst äußern, nach­dem gesellschaftliche, politische Gremien ihre Meinung formuliert und meist auch schon den öffentlichen Diskurs besetzt haben. Umgekehrt muss es sein! Zuerst die Wissenschaft, um dem Wissen eine Bahn zu brechen, um die Vielfalt der Fragestellung und die Komplexität der Proble­matik aufzuzeigen, und um dann auf dem Boden eines erwei­terten Wissens die Debatte anderen und letztlich dann auch entscheidenden Gruppen zu übergeben. Akademien, insbesondere unsere Akademie, sollten sich und müssen sich diesen Aufgaben stellen, wenn sie verantwortungsvoll mit ihrem Freiraum, mit ihrer Autonomie und mit ihrem Auftrag umgehen möchten.

 

Wissenschaft hat eine tiefe Verpflichtung, sich immer wieder ihrer Herkunft zu versichern. Gadamer sagte einmal sehr prägnant: Zukunft ist Herkunft. Orientierung, die wir suchen, erhalten wir häufig nicht aus der alleinigen Beschäfti­gung mit der Zukunft oder der Gegenwart. Orientierung - zugegebener­maßen oftmals unbewusst – erhalten wir zu großen Teilen auch aus dem, was war. Wenn wir heute unsere Gegenwart und unsere Zukunft sehr kostbar erachten, wieso sollte die Gegen­wart und Zukunft derjenigen, die vor 100 - 200 Jahren und noch früher gelebt haben - also damit unsere Vergangenheit - weniger kostbar sein?

 

Es ist in einer Zeit, in der Informationen fast pixelartig große Stücke unseres alltäglichen Wissens bestimmen, insofern auch geboten, sich mit großer Sorgfalt dem zuzuwenden, was früher einmal Gegenwart und Zukunft war. Langzeitvorhaben sind, sofern sie richtig zielorientiert und wissenschaftlich sorgfältig durchgeführt werden, Teil unseres kulturellen Gedächtnis­ses, und somit auch Fundament unserer Kultur. Ich würde aller­dings gern sehen, dass wir neben die Langzeitvorhaben auch Langzeitaufgaben stellen - Langzeitaufgaben, wie sie möglicherweise nur in einer Akademie verwirklicht werden können und die ganz konkret Zukunft sichern. Was meine ich damit? Lassen Sie mich ein kurzes Beispiel ausführen. Wir erinnern uns alle noch an die große Debatte über grüne Gentechnolo­gie in den 90er Jahren. Viele Wissenschaftler hatten sich damals intensiv darum bemüht, Überzeugungsarbeit zu leisten, Wissen zu vermitteln, Erklärungen anzubieten und für die Freiheit der Forschung auf diesem Gebiet zu kämpfen. Im Jahre 2004 hat der Deutsche Bundestag dann ein Gesetz verab­schiedet, welches im Prinzip all die Bemühungen der 90er Jahre über Nacht zunichte gemacht hat, hinzu kamen auch noch Vorwürfe an die Wissenschaft, dass sie sich und dass sich die Wissenschaftler nicht genügend in dieser Frage zu Wort gemeldet hätten. So als seien all die Argumente, die vor 10 – 15 Jahren die öffent­liche Debatte bestimmten, nichtig und nicht mehr existent. Richtig ist allerdings, dass der Widerstand der Wissenschaft im letzten Jahr deutlich erlahmte; aber ich bitte Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, wie lange soll denn ein Wissenschaftler denselben Vortrag und die­selben Argumente praktisch im „gefrorenen Zustand“ halten? Solange, bis das Parlament schließlich eine Gesetzesvor­lage macht? Dies ist schlechterdings nicht möglich. Das „Frischhalten“ von Argumenten, das aktive Zurver­fügungstellen von neuen Argu­menten kann nur institutionell abgesichert werden. Eine Universität mit ihrem ständigen personellen Wechsel kann dieses nicht leisten. Wissenschaftliche Institute werden Mühe haben, sich solch einer Aufgabe zu stellen. Es wäre zu über­legen, ob nicht Akademien - ggf. in einer neuen speziellen Organisationsform - der richtige Ort wären, um solche Lang­zeitaufgaben zu übernehmen. Der gerade erscheinende Gentechnikbericht könnte ein Anfang sein, langfristig wichtige Entwicklungen zu beobachten, zu bewerten und argumentativ zu begleiten, um bei Bedarf reaktionsfähig zu sein.

 

Lassen sie mich, meine sehr verehrten Damen und Herren, noch kurz einen letzten Punkt ansprechen. Die zivile Gesell­schaft, die ja in aller Munde ist, also die bürgerliche Gesell­schaft, so ist mein Befund, macht die Wissenschaft zunehmend weniger zu ihrem eigenen Anlie­gen. Die Unterstützung, die Förderung der Wissenschaft steht nicht mehr im Zentrum bürgerlichen Engagements. Auch hier, in unserer Akademie, mit unserem Verein Proacademia und dessen Mitgliedern haben wir eine hervorragende Möglich­keit, Teile unserer Bürger­gesellschaft an die Akademie heranzuführen, an Themen der Wissenschaft zu interessie­ren, Vertrauen zu schaffen und sie auf diese Weise für die Wissenschaft zu ge­winnen und sie auf diese Weise zu bewegen, wieder Ver­antwortung in verstärktem Maße für uns, für die Wissen­schaft zu übernehmen. Auch der zu gründende Senat ist in diesem Sinne eine hervorragende Brücke in die Gesellschaft.

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf mich auch hier noch einmal für die Über­tragung dieser schönen Aufgabe bedanken. Ich freue mich, mit möglichst vielen von Ihnen, die in der Akademie sind, aber auch mit möglichst vielen von Ihnen, die nicht oder noch nicht in der Akademie sind, zusammenzu­arbeiten. Vor allem aber gilt mein Dank Dieter Simon, der mit seiner prägnanten Sicht der akademischen Dinge, der mit seiner Kraft und Ausdauer die Akademie so strukturiert und geprägt hat, dass es eine Freude ist weiter zu machen, wo er aufhören wird – und dass es eine große Verantwortung ist, mit dem Erbe klug umzugehen.

Der Präsident

der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Dieter Simon

bittet zur

 

Festsitzung zum Leibniztag

 

Sonnabend, 25. Juni 2005, 10 Uhr

Konzerthaus Berlin

Gendarmenmarkt, 10117 Berlin

Großer Konzertsaal

 

Als Ehrengäste zur Festsitzung werden Nobelpreisträger der Fächer Physik, Chemie und Medizin oder Physiologie erwartet, die auf Einladung der Akademie und der Max-Planck-Gesellschaft im Einsteinjahr die historischen Stätten besuchen, an denen Albert Einstein in seiner Berliner Zeit gewirkt hat.

 

 

Programm

 

Begrüßung durch den Präsidenten

 

Verleihung der Leibniz-Medaille 

an Prof. Dr. Heinrich Meier, Geschäftsführer der Carl Friedrich von Siemens Stiftung

 

Festvortrag

Edelgard Bulmahn

Bundesministerin für Bildung und Wissenschaft

 

Musikalische Weltreise

Aziza Mustafa Zadeh - die "Prinzessin des Jazz"

Die Pianistin und Sängerin Aziza Mustafa Zadeh, geboren in Aserbaidschan, wohnhaft in Mainz, verbindet in

 

ihrem Programm östliche und westliche Einflüsse, Gershwin und Schumann mit Liedern ihrer Heimat,

orientalische Traditionen mit westlicher Improvisationstechnik.<o:p></o:p>

</o:p>Bericht des Präsidenten 

 

Vorstellung des neuen Präsidenten 

 

Ansprache Günter Stock 

 

Anschließend Empfang im Leibniz-Saal des Akademiegebäudes am Gendarmenmarkt

 

 

Einlaß 9.15 Uhr

Die Gäste werden gebeten, ihre Plätze bis 9.50 Uhr einzunehmen

Geschlossene Veranstaltung. Einlaß nur mit Einladung

Der Eintritt ist frei.

Veranstaltungszeitraum:

10.00

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