Situation

Unter Gesundheitsstandards werden Kriterien verstanden, die die Prädikation '...ist gesund' in Bezug auf ein menschliches Individuum regeln. Da die Ausdrücke 'gesund' bzw. 'krank' in der Umgangssprache zumindest zum Teil der individuellen Erlebnissphäre zugerechnet werden, also nicht direkt intersubjektiv zu vermitteln sind, bedarf es einer eigenen Reflexion auf die Möglichkeiten einer intersubjektiv verbindlichen Festlegung von Gesundheitsstandards.

 

Eine solche Festlegung wird zur unausweichlichen Aufgabe, wenn

  • Leistungen für die Wiederherstellung der Gesundheit bzw. für die Vermeidung von Krankheit von Individuen im Rahmen eines institutionalisierten Gesundheitswesens kollektiviert werden müssen;
  • Leistungen des Gesundheitswesens für Individuen aus Knappheits- bzw. Kostengründen kontingentiert werden müssen;
  • Leistungen des Gesundheitswesens für Individuen unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten 'richtig' alloziert werden müssen.

 

Anforderungen und Schwierigkeiten

Kollektivierung, Kontingentierung und Allozierung von Leistungen in Prävention, Diagnose, Therapie und Versorgung sind die Anforderungen, die eine intersubjektiv nachvollziehbare Festlegung von Gesundheitsstandards notwendig machen. Erst auf der Basis einer derartigen Festlegung können Fragen der rechtlichen Regulierung und der ökonomischen Organisation des Gesundheitswesens erörtert werden. Die Formulierung von Gesundheitsstandards ist ferner von erheblicher Bedeutung für die Abgrenzung der Aufgaben des Gesundheitswesens gegenüber denen der Gesundheits- und Sozialpolitik.

Der Lösung dieser Probleme stehen erhebliche Schwierigkeiten der Standardfestlegung entgegen, die oberflächlich gesehen Probleme semantischer Abgrenzungen darstellen, denen letztlich aber konfligierende Interessen zugrunde liegen. Aufgrund der Kollektivierung der Gesundheitskosten kann die Konfliktlösung nicht individueller oder parteilicher Interessen-durchsetzung oder allein den Sachverstand reklamierenden gesellschaftlichen Gruppen überlassen bleiben.

 

Aufgaben

Die Aufgaben, die von einer Arbeitsgruppe Gesundheitsstandards zu lösen waren, reichten von elementar begrifflichen Explikationsfragen bis zu handfesten gesundheitspolitischen Kontroversen. Dabei ging es insbesondere um die Bearbeitung folgender Fragen:

 

1. Grundsätzlich galt es zu klären, ob die Formulierung von 'Gesundheits'- oder 'Krankheitsstandards' vorzuziehen ist. Da unter Gesundheit umgangssprachlich mehr als die Abwesenheit von Krankheit verstanden wird, sind mit der Formulierung von Gesundheitsstandards erhebliche Anforderungen an das Gesundheitssystem über die Diagnose und Therapie von Krankheiten hinaus verbunden. Verdeutlicht werden sollte  dies anhand der seit Jahrzehnten geführten Diskussion um die Prävention von Krankheiten: Um Art und Ausmaß der Präventionsmaßnahmen festlegen zu können, war es zunächst notwendig, Gesundheitsstandards zu entwickeln. In ähnlicher Weise bedurfte es einer Abgrenzung der Versorgungsaufgaben des Gesundheits- gegenüber denjenigen des Sozialsystems.

 

2. Viele Abgrenzungsprobleme in Bezug auf den Gesundheits- bzw. Krankheitsbegriff haben es mit der Frage zu tun, ob das Vorliegen objektivierbarer biologischer Sachverhalte (naturalistische Definition) oder das Sich-Gesund-Fühlen bzw. das Sich-Krank-Fühlen des Einzelnen (normativistische Definition) für die Standardsetzung ausschlaggebend sein soll. Es sprechen jedoch viele Gesichtspunkte dafür, die strenge Dichotomisierung zu vermeiden und zu einem komplementären Gesundheits-/Krankheitsverständnis überzugehen.

Unbestreitbar ist, daß die Diagnose von Krankheiten auf 'Tatsachen' rekurrieren muß, die naturwissenschaftlicher Überprüfung zugänglich sind. Krankheit ist insgesamt jedoch ein normativer Begriff. Es war also ein 'gemischtes' Model zu formulieren. Dies hatte zur Konsequenz, daß die medizinischen Fächer nicht umstandslos als Naturwissenschaften, sondern primär als 'praktische Wissenschaften' zu verstehen sind.

 

3. Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit unterliegt offensichtlich einem historisch-kulturellen Wandel, was eng mit dem normativen Charakter von Gesundheit/Krankheit zusammenhängt. Schon die Grundeinstellung, Krankheit als zumutbares Ereignis oder als einen zu bekämpfenden Mißstand zu betrachten, unterliegt z.T. deutlichen Veränderungen. So läßt sich anhand der Medizingeschichte zeigen, daß bestimmte organische bzw. psychische Zustände zu manchen Zeiten als 'krankhaft', zu anderen Zeiten aber als 'nicht krank' galten.

Gegenwärtig sind es jedoch die medizinischen Disziplinen selbst, die den Wandel des Gesundheits-/Krankheitsverständnisses vorantreiben. So sind z.B. zunächst als psychosomatisch klassifizierte Krankheiten im Laufe der wissenschaftlichen Entwicklung als Infektions-krankheiten (z.B. Magenschleimhautentzündung Typ B), oder es sind Verhaltensstörungen als Folge von genetischen Defekten erkannt worden (z.B. Morbus Wilson).

 

4. Das Verständnis von Gesundheit/Krankheit in den medizinbezogenen Naturwissenschaften und in den verschiedenen klinischen Disziplinen ist keineswegs einheitlich. So werden die Krankheiten je nach Zwecksetzung z.B. nach den betroffenen anatomischen Strukturen, den physiologischen Systemen, der Übertragungsart oder dem Verbreitungsgebiet klassifiziert. Entsprechend folgt auch die Forschung in diesen Disziplinen keiner einheitlichen praktischen Zwecksetzung, abgesehen von der allgemeinen Orientierung an der Verbesserung von Diagnose und Therapie. Es war zu prüfen, ob durch das Paradigma der molekularen Medizin – d.h. der Suche nach den molekularen Mechanismen der Kranheitsentstehung – eine einheitliche, fachübergreifende Klassifikation möglich ist, die auch die Entwicklung von Gesundheitsstandards beeinflußt.

 

5. Gesundheitsstandards sowie die damit zusammenhängenden Fragen werden nach dem herkömmlichen Verständnis von Expertenkommissionen erarbeitet. Solche Kommissionen finden für verschiedene Fragen seit langem Anwendung innerhalb und außerhalb des Gesund-heitswesens (z.B. der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen). In jüngerer Zeit tritt dagegen zunehmend die Forderung nach Partizipation in den Mittelpunkt des Interesses. Dabei geht es um die Vorstellung, daß Entscheidungen, die von großer Bedeutung für das Gemeinwohl sind, unter Beteiligung eines möglichst großen Teils der Bevölkerung entschieden werden sollten. Beispiele für diesen Ansatz sind die sogenannten Konsensus-Konferenzen im US-Bundesstaat Oregon.

Partizipatorische Meinungsbildung bedeutet aber keine Garantie auf innere und äußere Konsistenz, pragmatisch ausreichende Stabilität über die Zeit hinweg und wissenschaftliche Adäquatheit. Daher war zu fragen, ob die Äußerungen einer betroffenen Öffentlichkeit nicht einer normativen Kontrolle hinsichtlich grundsätzlicher ethischer Orientierungen, elementarer anthropologischer Einsichten und wissenschaftlicher Adäquatheit bedürfen. Damit zeigt sich, daß eine sachgerechte Kombination von Expertenkultur und Partizipation gefunden werden muß.

 

6. Die Subsumtion unter die Begriffe gehört seit dem Beginn der abendländischen Ausein-andersetzung mit 'Gesundheit' und 'Krankheit' in die professionelle Domäne des ärztlichen Standesethos. Die Funktionalität des Standesethos ist grundsätzlich anzuerkennen. Unter dem Gesichtspunkt der zunehmenden Ökonomisierung des Gesundheitswesens, der europäischen Harmonisierung der Gesundheitssysteme und der globalen Aspekte vieler Probleme spielen Ansätze einer universalistischen Ethik, z.B. die sogenannte Bioethik-Konvention des Europa-rates, eine zunehmende Rolle. Das tradierte Standesethos sollte daher auf seine Tauglichkeit unter den veränderten Rahmenbedingungen des Gesundheitswesens überprüft werden.

Die Arzt-Patient-Beziehung ist schematisch gesagt, gekennzeichnet durch den Sachverstand des Arztes und die Beschwerden und Wünsche des Patienten. Die Formulierung von Gesundheitsstandards geht jedoch über den Interaktionsraum von Arzt und Patient hinaus. Unter den Bedingungen eines komplexen Gesundheitssystems muß der Sachverstand vieler Disziplinen in die Formulierung von Gesundheitsstandards einfließen. Hier waren vor allem medizinische, ökonomische, juristische, historische und ethische Fragestellungen zu berücksichtigen.

 

 

 

Kontakt
Dr. Ute Tintemann
Referentin
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