Das Ziel

Vor dem Hintergrund schwelender „science wars“ hatte die Arbeitsgruppe Psychologisches Denken und psychologische Praxis in wissenschaftshistorischer und interdisziplinärer Perspektive das Ziel, die psychologische Fachforschung mit ihren Nachbargebieten und Praxisbezügen einerseits und die Reflexionsdisziplinen Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie andererseits in eine intensive und beiderseitig fruchtbare Verbindung zu bringen.

 

Die Disziplinen

Psychologie, Psychiatrie, Philosophie, Wissenschaftsgeschichte, Technik- und Neurowissenschaften sollten sich in der AG über die jeweils von ihnen untersuchten psychischen Phänomene, die dabei verwendeten Instrumente und die Anwendungen psychologischen Denkens und Forschens verständigen.
 

Die Mitglieder

Es wirkten 16 namhafte Vertreter aus der Psychologie und Psychiatrie, Neuro- und Technikwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte und Philosophie mit.

 

Die Forschungskonzeption

Anstatt historisch kontingenten Disziplinengrenzen die Strukturierung des Forschungsfeldes zu überlassen, richtetete die AG ihre Arbeiten an bestimmten Themen aus, die eine interdisziplinäre Forschung erfordern und voran bringen. Drei Forschungsschwerpunkte standen dabei im Vordergrund:

  • Psychologische Begriffe in verschiedenen Disziplinen

  • Instrumentalisierung in der psychologischen Forschung

  • Technische und lebenspraktische Anwendungen der Psychologie

Notwendig ist die interdisziplinäre Form der Forschung angesichts der Vielzahl mit psychologischen Konzepten arbeitender Disziplinen und außeruniversitärer psychologischer Denk- und Praxisansätze. Geschichte und Gegenwart der Psychologie lassen sich nicht angemessen reflektieren, wenn man außer Acht lässt, in welchen Beziehungen sie zu ihren Nachbardisziplinen wie auch zu den psychologischen Begriffen steht, die unser alltägliches Denken und Handeln durchdringen. Deshalb kommen in der Arbeitsgruppe alle Formen und Orte psychologischen Denkens, Forschens und Handelns als Untersuchungsgegenstände in Betracht.

Möglich war die interdisziplinäre Forschung hier, weil die genannten Themen eine gegenseitige Befruchtung von Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie und gegenwärtiger wissenschaftlicher Forschung erlaubten, ja sinnvoll erscheinen liessen. So haben Instrumente die Praxis psychologischer Forschung in der Vergangenheit wie in der Gegenwart geformt; Interessen an Anwendungen psychologischen Wissens und Denkens haben zu jeder Zeit einen Einfluß auf die Richtung der Forschung ausgeübt; und die Ansiedlung psychischer Forschungsobjekte in verschiedenen Disziplinen wie der Psychologie, der Psychiatrie, der Hirnforschung oder den Sozial- und Kulturwissenschaften, wie auch das Verhältnis all dieser Fachdisziplinen zur Alltagspsychologie sind bis heute Gegenstand expliziter Aushandlungsprozesse oder impliziter Aneignungen.

Angesichts dieser Voraussetzungen erschien eine disziplinenübergreifende Zusammenarbeit von Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie und gegenwärtiger wissenschaftlicher Forschung vielversprechend. Die AG maß dabei einer gleichberechtigten Beteiligung aller Seiten hohe Bedeutung bei. Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftstheoretiker wie auch die jeweiligen Fachvertreter konnten ihre Argumente in der gemeinsamen Diskussion schärfen. So sollten Sprachbarrieren überwunden und exemplarische Verständigungen zwischen den unterschiedlichen Wissenschaftskulturen erreicht werden.

 

Arbeitsformen

Die AG veranstaltete regelmäßig Arbeitssitzungen, auf denen die Mitglieder und Gäste vortragen und diskutieren. Sie führte Workshops zu den drei Forschungsschwerpunkten, auf denen international ausgewiesene Vertreter aus allen beteiligten Disziplinen eingeladen wurden, und sie hat eine größere Tagung veranstaltet.

Schließlich verfolgten die Mitarbeiter eigene Forschungsprojekte im Rahmen der inhaltlichen Konzeption der AG. Thomas Sturm analysierte die Konzepte des ‘Ich’ und ‘Selbst’ in psychologischen und philosophischen Theorien menschlichen Handelns. Dabei verknüpfte er wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Fragestellungen mit aktuellen Perspektiven. Sven Lüders erforschte unter dem Titel „Psycho-Technik geistiger Arbeit“ die experimentalpsychologischen Zugänge zur Ermüdung und Aufmerksamkeit vom 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts und deren Beziehungen zur kybernetisch-technischen Entwicklung. Martin Eberhardt analysierte unter dem Titel „‘Experimentelle Philosophie’: Carl Stumpf und die Arbeit des Berliner Psychologischen Instituts“ den Zusammenhang von experimenteller psychologischer Forschung und philosophisch-geisteswissenschaftlicher Reflexion. Sören Wendelborn verglich unter dem Titel „Technische Anwendungen der Psychologie: Die Berliner Arbeitspsychologie 1900-1940“ universitär und nichtuniversitär organisierte Angewandte Psychologie in Berlin.

 

Schwerpunkt 1: Psychologische Begriffe in verschiedenen Disziplinen

Es gibt eine hohe und historisch variierende Zahl psychischer Phänomene oder Forschungsgegenstände - Bewußtsein, Aufmerksamkeit, Emotion, Kognition, Verhalten, Rationalität, Selbst, Persönlichkeit, Charakter, um nur einige zu nennen. Diese Gegenstände wurden und werden keineswegs nur von der Psychologie erforscht, sondern auch von zahlreichen ihrer Nachbardisziplinen und durchdringen auch alltägliches Denken und Handeln. Als die Psychologie im 19. Jahrhundert als Disziplin entstand, war die Bestimmung dessen, was man unter psychischen Gegenständen verstand, so wenig festgelegt wie die Zuständigkeiten bestimmter Disziplinen für die Erforschung der jeweiligen Phänomene. Auch heute ist die Erforschung psychischer Phänomene durch weiter zunehmende Differenzierung gekennzeichnet.

Wie genau kam und kommt es hierzu? Wie ist es zur unterschiedlichen Behandlung der Leib-Seele-Beziehung in Philosophie, experimenteller Psychologie und den Neurowissenschaften gekommen? Wie ist der unterschiedliche Umgang mit Konzepten wie Vernunft, Lernen und Erinnern in Psychologie, Wirtschafts- und Rechtslehre oder Technikwissenschaft zu erklären? Auf welchen Wegen gelangen Konzepte wie ‘Charakter’, ‘Persönlichkeit’ oder ‘Volk’, die Teile alltäglichen Denkens und Handelns sind, in die Wissenschaft und zurück in die Gesellschaft? Die AG untersuchte und diskutierte an ausgewählten Beispielen zwei Haupterklärungsstränge und ihre Beziehung zueinander:

  • In der bisherigen Forschung sind zur Beantwortung der genannten Fragen vorrangig soziologische Gesichtspunkte betont worden, welche die akademische Institutionalisierung und berufliche Professionalisierung in den Vordergrund stellen. So wird häufig durch „boundary work“ versucht, die Legitimierung und institutionelle Absicherung der Gegenstände und Methoden von Disziplinen gegenüber Konkurrenten aus anderen Wissenschaften einerseits und gegenüber (angeblichen) Laien andererseits zu erreichenl.

  • Dabei sind die kognitiven Faktoren der Beziehungen zwischen den verschiedenen Teilgebieten und Richtungen der akademischen Psychologie mit der Vielfalt psychologischer Ansätze, Begrifflichkeiten und Erklärungsweisen in anderen Disziplinen und außerhalb der Universität bislang häufig unterbelichtet geblieben. Wie sind Begriffe wie ‘Intelligenz’, ‘Lernen’, ‘Rationalität’, ‘Persönlichkeit’ oder ‘Charakter’ von methodischen und theoretischen Entwicklungen in verschiedenen Teilgebieten der Psychologie und ihrer Nachbardisziplinen beeinflusst worden? Welche Rolle spielen physiologische oder biologische Erklärungen psychischer Phänomene? Wie ist das Verständnis psychischer Phänomene dadurch bedingt, ob man experimentelle Verfahren in der Psychologie für möglich und sinnvoll hält - und wie weit dadurch, ob gesetzesartige Erklärungen in der Psychologie denkbar sind oder nicht? Und wie ist das Verhältnis von akademischer und nichtakademischer Psychologie, und von wissenschaftlicher und alltäglicher Rede über psychischer Phänomene beschaffen?

Diese Fragen, die neben soziologischen auch kognitive Faktoren bei der Analyse und Erklärung der Differenzierung psychischer Phänomene ins Spiel bringen, können die bisherigen Betrachtungsweisen in der Geschichte der Psychologie produktiv verändern. Im Lichte von Untersuchungen zur kognitiven Differenzierung psychischer Phänomene könnte es irreführend sein nur zu fragen, wie schon gegebene Phänomene über eine Vielzahl schon vorhandener Disziplinen verteilt worden sind. Man könnte auch untersuchen, wie eine kognitive Differenzierung der Phänomene selbst die Entstehung und Entwicklung der verschiedenen Disziplinen dynamisch beeinflusst hat et vice versa.

 

Schwerpunkt 2: Instrumentalisierung in der psychologischen Forschung

Für Wissenschaftler sind ihre Instrumente - Messapparate, Versuchsaufbauten, Computer und anderes mehr - nicht nur Mittel der Forschung, sondern oft auch Gegenstände der Verehrung und des Vergnügens. Viele Instrumente sind teuer, schön und geheimnisvoll, und sie machen den, der sie beherrscht und nutzt, zum Experten. Sie sind auch Objekte, die zur Kreativität oder zum spielerischen Umgang anregen.

Über solche emotionalen Gesichtspunkte hinaus gibt es freilich noch andere Aspekte und Funktionen wissenschaftlicher Instrumente, die einer näheren Analyse bedürfen. Der Terminus ‘Instrument’ umfasst hierbei alles, was zur wiederholbaren, standardisierten Erzeugung eines spezifischen Phänomens oder Effektes eingesetzt wird - von Messapparaten über Apparate zur Reizerzeugung, Papier- und Bleistift-Tests bis hin zu Beobachtungs- und Auswertungsmethoden. Zwei Fragenkomplexe zur Rolle von Instrumenten in der psychologischen Forschung standen im Mittelpunkt des Interesses der AG:

  • Die Rolle von Instrumenten in empirischen Forschungsprogrammen: Wie erschließen oder erzeugen Instrumente neue psychische Phänomene? Welche Annahmen und Absichten gehen in die Verwendung eines Instruments ein? Welche Grenzen und Möglichkeiten haben Instrumente? Wie haben sie sich im Verlauf der Geschichte der psychologischen Forschung entwickelt? Zur Beantwortung dieser Fragen war das Verhältnis der jeweiligen Instrumente zum Untersuchungsgegenstand zu analysieren, insbesondere die Rolle von Apparaten in der Entstehung und Ausgestaltung ganzer psychologischer Forschungsprogramme. Die jüngere Literatur zur Geschichte der naturwissenschaftlichen Forschungspraxis und der sogenannten „Experimentalsysteme“ betont zunehmend, daß das Experimentieren seine eigene Dynamik hat: Neue Geräte können ebenso zu Ausgangspunkten oder gar zu Faktoren der Organisierung eines Forschungsprogramms werden wie Theorien. Das galt es für den Bereich der Psychologie und ihrer Nachbardisziplinen zu untersuchen. Berücksichtigt werden sollte zudem die Frage danach, wann, wo und warum bestimmte instrumentell erzeugte Daten als „harte Fakten“ auf psychischem Gebiet anerkannt worden sind, in Erwartung, dass die Forschung hier Beiträge zu einer Geschichte der Objektivität bzw. der Objektivierung des Psychischen liefern könnte.

  • Die Rolle von Instrumenten als Metaphern für psychische Gegenstände: Regen Instrumente zu neuen Konzepten und Theorien des menschlichen Geistes an, und wenn ja, wie? Wie können Instrumente oder technische Werkzeuge zu Metaphern für psychologische Gegenstände selbst werden? Und was an Instrumenten ist es, das sie zu geeigneten Metaphern für psychische Phänomene macht bzw. was fehlt denjenigen Instrumenten, die dafür nicht in Betracht kommen? Bei solchen Fragen geht es nicht nur um die Wirkungsweise von Metaphern in der Erforschung psychologischer Objekte; es geht auch um damit erzeugte oder verknüpfte Menschenbilder. Klassische Beispiele dieser Problematik sind die Arbeitsweise des Computers als Metapher für das Denken oder den Geist überhaupt oder die Rolle des Telegraphennetzes als Metapher bzw. als Analogie für das zentrale Nervensystem. Ein Beispiel aus der Entstehungszeit der naturwissenschaftlichen Psychologie ist die Erforschung der Sinne als Apparate; und weitere Beispiele finden sich in der Konzeptualisierung von Intelligenz auf dem Hintergrund faktorenanalytischer Methoden oder in der auf der Bayes’schen Statistik beruhenden Metapher des Menschen als ‘intuitivem Statistiker’ in der Kognitionsforschung.

 

Schwerpunkt 3: Technische und lebenspraktische Anwendungen der Psychologie

Seit langem gibt es eine breite Palette psychologischer Tätigkeiten, die Bereiche wie das Arbeitsleben, die Führungsschichten der Wirtschaft oder das Militär mit Tests, Evaluationen und Beratungen durchdringen. Tätigkeiten dieser Art werden oft als „angewandte Psychologie“ bezeichnet, wohl, weil dies einem landläufigen Verständnis der Beziehung zwischen Wissenschaft und Praxis entspricht: Auf der einen Seite steht die wissenschaftliche „Grundlagenforschung“ zu rein theoretischen Zwecken, wie sie an Universitäten oder auch an manchen außeruniversitären Instutitionen betrieben wird; auf der anderen Seite steht die Anwendung eines so gewonnenen Wissens zu außerwissenschaftlichen Zwecken.

Wie zutreffend ist eine solche Auffassung? Und wie steht es um diese praktischen Tätigkeiten selbst, wenn sie außerhalb akademischer Kontexte zum Zug kommen? Die AG untersuchte diese Fragen in zwei Schwerpunktbereichen:

  • Zu den technischen Anwendungen psychologischen Wissens zählt u.a. die ‘Psychotechnik’ im Sinne der Verfahren, die in Betrieben zur Optimierung der Produktion durch stärkere Berücksichtigung des „Faktors Mensch“, etwa durch die Arbeitswissenschaften, eingesetzt wurden, sowie auch die Verwendung von Tests in der Personalauswahl.

  • Zu den lebenspraktischen Anwendungen psychologischen Wissens gehören auch bestimmte Methoden, wie sie etwa in der Therapie oder in Management-Training-Workshops angewendet werden: „Coueismus“ im frühen 20. Jahrhundert, „autogenes Training“, Selbstfindung oder auch Selbsteffizienz benennen hier nur einige Verfahren und Ziele, die auch das alltägliche Denken und Handeln zu durchdringen suchen.

Wodurch werden solche Anwendungen in ihrer Struktur und Durchführung bestimmt, und wie bestimmen und beeinflussen sie die sozialen Kontexte, in denen sie ausgeführt werden? Wie konstituieren oder wandeln sich die psychischen Untersuchungsgegenstände in den praktischen Kontexten der Tests, Bewertungen und Beratungen? Welche theoretischen oder methodischen Anschlüsse und Anschlußmöglichkeiten hat die psychologische Praxis zur akademischen Psychologie?

Fragen von wissenschaftspolitischer Relevanz schließen sich hier an. Schließlich verbinden sich mit psychologischen Tätigkeiten Erwartungen von Seiten der gesellschaftlichen Auftraggeber, der Kunden und Klienten, denen die Tätigkeiten besser oder schlechter gerecht werden können. Auf welche Weise wurden und werden die Experten den Erwartungen gerecht oder auch nicht gerecht, auf welche Weise können sie ihnen gerecht werden? Können sie die Inhalte und Verfahrensweisen ihrer Untersuchungen, Evaluationen und Beratungen mitbestimmen, und wenn ja, unter welchen Bedingungen?

Kontakt
Dr. Ute Tintemann
Referentin
Referat Arbeitsgruppen
Tel.: +49 (0)30 20370 633
tintemann@bbaw.de 
Jägerstraße 22/23
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